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Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzorganisationen
News | 05.09.2023
#Chemikalien

Weniger wäre mehr

Gefährliche Chemikalien
© AdobeStock/A_Bruno
Gefährliche Chemikalien

Giftige Stoffe gibt es zuhauf und sie können krank machen. Die derzeit laufende Überarbeitung der EU-Chemikalienverordnung REACH ist zum wiederholten Mal verzögert worden. Das ist bedauerlich, sagt Marike Kolossa-Gehring, Chemikalienexpertin beim Umweltbundesamt. Für sie stimmt die Chemie, wenn Behörden, Industrie und Verbraucher*innen so zusammenspielen, dass Risiken reduziert oder vermieden werden.

Stimmt die Befürchtung von Umweltorganisationen, dass womöglich nur die Hälfte der Produkte, die schädliche Chemikalien enthalten, reguliert werden soll?

Es ist schwierig über Entwürfe zu reden, die man noch nicht konkret kennt. Die Verschiebung der Überarbeitung von REACH ist überaus bedauerlich. Wir haben jetzt in einem großen EU-weiten Projekt namens HBM4EU (Europäische Human Biomonitoring Initiative; die Red.) gesehen, dass bereits bei einer kleinen Zahl ausgewählter Stoffe, die in sehr vielen Produkten verwendet werden, Chemikalien enthalten sind, die die Menschen so hoch belasten, dass wir gesundheitliche Gefahren bei einem nennenswerten Teil der Bevölkerung nicht mehr ausschließen können.

Die Belastung mit Chemikalien in Menschen ist immens, wie die Europäische Human Biomonitoring Initiative herausgefunden hat. Was sind die häufigsten Giftstoffe und wie wirken sie sich aus?

Wir haben prioritäre Stoffe identifiziert, das sind Stoffe, für die sowohl die EU-Behörden als auch die nationalen Behörden einen Handlungsbedarf sehen, etwa die Ewigkeitschemikalien, perfluorierte und polyfluorierte Substanzen. Das sind Stoffe, die vielfältige Wirkungen haben, und zwar bei sehr niedrigen Konzentrationen. Beispielsweise stören sie die Immunantwort bei Impfungen, sie wirken sich auf die Fruchtbarkeit aus. Einige sind krebserzeugend und sie beeinflussen den Stoffwechsel, sodass man leichter dick wird oder eine Zuckerkrankheit entwickeln kann. Wir haben unter den prioritären Substanzen auch eine Reihe Plastikinhaltsstoffe untersucht wie Weichmacher oder auch Bisphenol A. Ein Stoff, der von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA gerade deutlich kritischer und strenger bewertet worden ist als in zurückliegenden Jahren. Für Bisphenol A sind die Beurteilungswerte für eine akzeptable Aufnahme um den Faktor 20.000 heruntergesetzt worden.

Wo begegnen mir persönlich denn Chemikalien wie Bishenol A oder Schwermetalle?

Bestimmte Chemikalien begegnen ihnen überall. Ich bin mir daher sehr sicher, dass wir sie auch in Ihrem Körper nachweisen können. Sie können bestimmten Stoffen gar nicht ausweichen. Es gibt vielfältige Quellen für die Aufnahme, zum Beispiel über Nahrungsmittel, die Verpackung und Aufbereitung von Lebensmitteln oder den Transfer über den Boden in pflanzliche Nahrungsmittel. Schwer abbaubare Stoffe wie die perfluorierten und polyfluorierten Substanzen werden nicht nur über Trinkwasser und auf kontaminierten Böden angebautes Gemüse, sondern auch über fettreiche Nahrung wie Fisch- und Fleischprodukte aufgenommen. Viele Schwermetalle gelangen über die Nahrung in den Körper. HBM4EU fand heraus, dass die Düngung der Böden mit bestimmten Düngern dazu führt, dass anschließend Getreideprodukte so hoch belastet sind, dass sie bedeutsamen Einfluss auf die Belastung des Körpers mit Cadmium haben. Es gibt auch viele Körperpflegeprodukte, die zu einer Belastung des Körpers mit einer ganzen Reihe von Chemikalien führen können, die nicht in den Körper gehören. Und natürlich ist auch die Innenraumluft Quelle für eine Schadstoffaufnahme. Chemikalien können tatsächlich über Einatmen, Verschlucken und Hautkontakt in den Körper gelangen.

Marike Kolossa-Gehring
Ich würde empfehlen, dass man ein bisschen mehr wie unsere Großmütter lebt, indem man eben isst, was man erkennt, was zu der jeweiligen Jahreszeit passt, und indem man den Kontakt zu Produkten, die direkt auf die Haut kommen, auf ein durchschnittliches Maß beschränkt.
Dr. Marike Kolossa-Gehring, Umweltbundesamt
Abteilung Toxikologie und gesundheitsbezogene Umweltbeobachtung

Wie können sich Menschen denn davor schützen?

Man kann sich nicht vollständig schützen, man kann aber die Aufnahme reduzieren. Zum Beispiel, wenn man selbst kocht und wenig Fertignahrungsmittel und aufbereitete Nahrungsmittel zu sich nimmt. Dann sind in der Regel tatsächlich niedrigere Belastungen feststellbar. Bei aufbereiteten Lebensmitteln sieht man häufig nicht mehr, woraus sie bestehen. So entsteht die Illusion, zum Beispiel bei Analogkäse, dass man Käse vor sich hätte. Es ist aber ein Gemisch aus Eiweiß, Fett und anderen Inhaltsstoffen. Auch bei veganen Lebensmitteln sind oft sehr viele Zusatzstoffe drin, die für Verbraucher*innen nicht identifizierbar sind. Deshalb sollte man regional, saisonal und nach Möglichkeit biologisch angebaute Nahrungsmittel zu sich nehmen. Und tierische Fette reduzieren. In Innenräumen sollte man regelmäßig, zweimal am Tag, mindestens zehn Minuten auf Durchzug lüften, um Schadstoffe aus der Luft zu entfernen. Auch feucht Staub wischen reduziert die Belastung durch schädliche Staubbestandteile. Der Verzicht auf Duftobjekte und Kerzen ist sinnvoll. Und auch ein gemäßigter Einsatz von Körperpflegeprodukten und Kosmetika. Ich würde empfehlen, dass man ein bisschen mehr wie unsere Großmütter lebt, indem man eben isst, was man erkennt, was zu der jeweiligen Jahreszeit passt, und indem man den Kontakt zu Produkten, die direkt auf die Haut kommen, auf ein durchschnittliches Maß beschränkt.

Regelmäßig kommen wir mit vielen synthetischen Stoffen in Berührung. Riskant sind neben Duftstoffen und Pestizidrückständen im Essen auch Flammschutzmittel in Möbeln oder Emulgatoren in Duschgel. Selbst in nur geringer Konzentration haben diese „Alltagsgemische“, wie ChemTrust sie bezeichnet, es in sich. Man spricht auch von Cocktaileffekt. Wie lassen sich diese kombinierten Chemikalien regeln?

Die Diskussion um den Cocktaileffekt ist ganz schwierig. Wir wissen heute mit Sicherheit, dass es Kombinationswirkungen gibt, aber die Regulatoren tun sich schwer. Das hat einerseits methodische Gründe, andererseits haben sie alle ihre Bewertungskonventonen, die fest verankert sind. Wir haben in HBM4EU für Europa und in Deutschland mit der deutschen Umweltstudie zur Gesundheit bewiesen, dass wir tatsächlich vielfältige Stoffe gleichzeitig im Körper finden, die physiologisch dort nicht hingehören. Es gibt also keine Rechtfertigung mehr, eine Einzelstoffbewertung als Bewertung der realitätsnahen Belastung zu betrachten. In der EU wird im Moment über einen Mischungs-Abschätzungsfaktor diskutiert, mit dem sie einen Vorsichtsfaktor in die übliche Stoffbewertung einführen will, der die Mischungseffekte abdecken soll. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, weiter zu forschen, um das Mischungsproblem und seine Folgen besser zu verstehen. Wir haben sogenannte Netzwerkanalysen gemacht mit unseren Belastungsdaten im menschlichen Körper und können sehen, welche Stoffe und Stoffgruppen regelmäßig zusammen auftauchen. Hier finden wir Unterschiede bei Männern und Frauen, bei Jungen und Mädchen. Auch in verschiedenen Altersgruppen stellen wir häufig auftretende Mischungen fest. Die müssen wir jetzt genauer auf ihre Wirkungen bewerten.

Was ist zum Beispiel der Unterschied bei Jungen und Mädchen?

Bei vielen Einzelstoffen gibt es gewisse Unterschiede, weil Jungen und Mädchen im Schnitt verschiedene Verhaltensweisen an den Tag legen oder sich verschieden ernähren. Zum Beispiel wird Fleisch eher von männlichen Personen konsumiert als von weiblichen, die eher Gemüse und Salat bevorzugen. Das hat natürlich auch Konsequenzen für die Belastung. Wir führen gerade eine neue große deutsche Umweltstudie zur Gesundheit durch, in der erstmals gezielt Mischungen untersucht werden. Wir werden insgesamt etwa 120 Stoffe in allen bevölkerungsrepräsentativ ausgewählten Studienteilnehmenden untersuchen. Danach werden wir über die systematischen Unterschiede der Belastung in Männern und Frauen oder auch in Altersgruppen deutlich mehr sagen können. Mischungsforschung steckt trotz allem im Moment noch in den Kinderschuhen.

Wann ist hier mit Ergebnissen zu rechnen?

Wir sammeln unsere Proben bis Mitte nächsten Jahres. Also schätzungsweise Anfang 2026. Aber wir werten jetzt die Daten der Kinder- und Jugendlichenstudie, also die deutsche Umweltstudie zur Gesundheit (GerES V; 2014-2017) aus. Auf der Basis dieser Daten erarbeiten wir gerade eine Mischungsbewertung. Mit deren Ergebnissen rechne ich tatsächlich Anfang nächsten Jahres.

Deutschland machte mit anderen Ländern den Vorstoß, Fluorchemikalien als Gruppe verbieten zu lassen. Eine Konsultation dazu bei der Europäischen Chemikalienbehörde ECHA läuft noch. Auch das UBA unterstützt den Verbotsantrag. Warum ist das so wichtig?

Diese Stoffe sind extrem stabil in der Umwelt und auch im Menschen. Das heißt, wir werden sie nicht wieder los, wenn sie einmal in der Umwelt oder im menschlichen Körper angekommen sind. Dort können sie vielfältige Wirkungen entfalten. Bei solchen lange beständigen Stoffen können wir keine Maßnahmen mehr ergreifen, die schnell zu einer Verminderung der Belastung führen. Es geht um eine Stoffgruppe, die aus zwischen vier- und zehntausend verschiedenen Stoffen besteht, also immens groß ist. Wenn wir einen Stoff gezielt verbieten, kann ein Hersteller ohne Weiteres stattdessen einen chemisch extrem ähnlichen Stoff verwenden, der mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit exakt die gleiche Wirkung hat, dem wir das einzeln aber noch nicht im Detail nachgewiesen haben. Wenn wir diese Stoffe in die Umwelt entlassen, können wir sie nicht zurückholen, und dadurch dass die problematischen Eigenschaften tatsächlich für die gesamte Stoffgruppe zu erwarten sind, ist es konsequent ein Verbot der ganzen Gruppe anzustreben, wie das Umweltbundesamt das tut. Ich hoffe, dass es eine sehr stark sachorientierte und vorsorgeorientierte Umwelt- und Verbraucherpolitik durch die europäischen Behörden gibt.

Es geht nicht darum, die Verantwortung an die Bevölkerung zu delegieren, aber ich schätze, etwa die Hälfte der eigenen körperlichen Belastung ist Ergebnis des eigenen Verhaltens.

Was muss passieren, damit Sie sagen: Die Chemie stimmt?

Ich glaube, wir brauchen neue Konzepte. Es gibt mittlerweile Ansätze, Produkte so zu gestalten, dass sie sicher und nachhaltig sind, und zwar schon bei ihrer Entwicklung. Wir brauchen Chemikalien auf dem Markt, die wirklich umfassend getestet sind. Für mich würde die Chemie stimmen, wenn wir problematische Stoffe nur durch solche Stoffe ersetzen, die genauso gut und umfassend untersucht sind wie die ersetzten, wenn wir beim Recycling genau darauf achten, dass problematische Stoffe nicht wieder in Umlauf kommen, wenn wir von vornherein bei der Herstellung und Vermarktung darauf achten, dass wir umfassend getestete, bekömmliche Produkte haben. Und für mich würde die Chemie stimmen, wenn die Verbraucherinnen und Verbraucher bewusste Entscheidungen treffen, welche Produkte sie in ihre Wohnung holen, wie sie sich ernähren, mit welchen Stoffen sie ihren Körper in Kontakt bringen. Aber das ist natürlich leicht gesagt und schwer getan.

Und deshalb ist es enorm wichtig, dass die Behörden zuverlässige und leicht verständliche Informationen zur Verfügung stellen. Eine gute Produktkennzeichnung finde ich sehr hilfreich. Es geht nicht darum, die Verantwortung an die Bevölkerung zu delegieren, aber ich schätze, dass etwa die Hälfte der eigenen körperlichen Belastung Ergebnis des eigenen Verhaltens ist. Eine ganz wichtige Rolle für die Aufklärung, Information und den Dialog mit der Bevölkerung sehe ich auch bei den Umweltverbänden und bei den NGOs, die andere Zielgruppen erreichen, die Menschen in einer Weise ansprechen, die den Zugang leichter macht. Das Zusammenspiel zwischen Behörden, Verbänden und der Industrie ist nötig, damit wir zu einer Verwendung von Chemie und zu Verbrauchsentscheidungen kommen, die uns ein angenehmes Leben bescheren, aber Risiken reduzieren oder vermeiden.

Das Interview führte Marion Busch.

Die Interviewpartnerin

Die Biologin und Toxikologin Dr. Marike Kolossa-Gehring ist im Fachbereich Gesundheitlicher Umweltschutz, Schutz der Ökosysteme des Umweltbundesamts zuständig für Toxikologie und gesundheitsbezogene Umweltbeobachtung. Sie hat beim Gesundheitsforschungsprojekt HBM4EU (Europäische Human Biomonitoring Initiative) mitgearbeitet.

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