Wie gut geht es der Chemieindustrie? Giftige Bilanz(en)

Laut Analyse der Organisation ChemSec sind die Bilanzen großer Chemiekonzerne trotz anderslautender Klagen ausgezeichnet. Ein neuer Bericht von PAN Europe zeigt, dass ein EU-Gesetz zum Verbot der schädlichsten Pestizide scheiterte, weil die Behörden den von der Industrie aufgestellten Regeln folgten. Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen vor Pestiziden reichen laut einer Studie in Bozen nicht aus. Das ChemSec-Team findet PFAS im eigenen Blut und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen bekommt gleich zwei offene Briefe.
Die Überarbeitung der EU-Chemikalienverordnung REACH läuft hinter den Kulissen auf vollen Touren und die Akteure machen sich schon mal warm. Diesen Eindruck muss jedenfalls bekommen, wer die jüngsten Meldungen in diesem Sektor verfolgt.
Chemieunternehmen melden gestiegene Umsätze – nur nicht überall
„Glauben Sie nicht alles, was Sie hören - der europäischen Chemieindustrie geht es gut“, warnt die Umweltorganisation ChemSec davor, allzu vertrauensvoll alle Klagen der europäischen Wirtschaft über Pandemie, Energiekrise, Kriegsauswirkungen zu übernehmen. ChemSec hat die Quartalsberichte einiger der größten und einflussreichsten europäischen Chemieunternehmen gelesen und zeigt, dass deren Gewinne tatsächlich größer seien als erwartet, und „die Zukunft rosig“ aussehe. Der deutsche Chemieproduzent BASF beispielsweise schreibe in seinem zweiten Quartalsbericht für 2022, dass er aufgrund der „sehr positiven Geschäftsentwicklung im ersten Halbjahr 2022“ nun einen Umsatzanstieg auf bis zu 89 Milliarden Euro in diesem Jahr erwarte (gegenüber der vorherigen Prognose von bis zu 77 Milliarden Euro). Auch Bayer erkläre „derzeit keine wesentlichen finanziellen Auswirkungen auf das Gesamtjahr 2022“ zu erwarten. Umicore habe „in einem Marktumfeld, das durch schwere externe Herausforderungen gekennzeichnet ist“ das zweithöchste Halbjahresergebnis in der Geschichte von Umicore erzielt. ChemSec kritisiert, dass diese positiven Aussichten in den Sälen und Sitzungszimmern in Brüssel nicht kommuniziert würden, eher höre man das Gegenteil. „Die Verzögerung von Verordnungen ist eine bewährte Verhandlungstaktik, die wir schon oft erlebt haben“, so die Organisation. Die endgültige Version von REACH 2.0 werde wohl „frühestens(!) - Mitte 2024 vorgelegt“. Es sei aber wahrscheinlicher, dass sich die Verhandlungen zwischen Kommission, Rat und Parlament länger hinzögen.
EU als „Pestizid-Paradies“?
Ein Ende September veröffentlichter Bericht von PAN Europe zeigt, dass ein EU-Gesetz zum Verbot der schädlichsten Pestizide „zu 100 Prozent gescheitert“ ist, weil die Behörden den von der Industrie aufgestellten Regeln folgten. Der Bericht mit dem Titel "Pesticide Paradise" analysiert, wie Industrie und Behörden die giftigsten Pestizide vor einem politischen Vorstoß für eine nachhaltige Landwirtschaft geschützt haben. Und das Resultat? Jüngsten offiziellen Daten zufolge, so PAN Europe, sei Herbstobst in hohem Maße mit der gefährlichsten Kategorie von Pestiziden belastet. Ein hoher Anteil der europäischen Birnen (49 Prozent), Tafeltrauben (44 %), Äpfel (34 %), Pflaumen (29 %) und Himbeeren (25 %) seien mit Rückständen von Pestiziden verkauft worden, die mit einem erhöhten Krebsrisiko, Missbildungen bei der Geburt, Herzkrankheiten und anderen schweren Erkrankungen in Verbindung gebracht werden und umweltschädlich sind. PAN Europe analysierte 44.137 Proben von Frischobst, die von Regierungsbehörden zwischen 2011 und 2020 untersucht wurden, und stellte fest, dass sich die Kontamination von Äpfeln, Birnen und Pflaumen seit 2011 fast verdoppelt hat.
Beispiel Bozen: Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen vor Pestiziden unzureichend
Eine neue Studie aus Bozen-Südtirol zeigt, dass trotz der von den lokalen Behörden ergriffenen Maßnahmen immer noch synthetische Pestizide, die der menschlichen Gesundheit und der Umwelt schaden können, auf Kinderspielplätzen und Schulhöfen nachgewiesen werden. Die Studie von Health and Environment Alliance (HEAL), Pesticide Action Network (PAN) Europe, PAN Germany und der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU) wurde in einer der größten europäischen Anbauregionen für Äpfel und Wein durchgeführt. Untersucht wurden die offiziellen Daten von 306 Grasproben, die zwischen 2014 und 2020 auf 88 nicht landwirtschaftlich genutzten öffentlichen Flächen wie Kinderspielplätzen und Schulhöfen gesammelt wurden. Ergebnis: Die Pestizidabdrift kann durch Maßnahmen wie Warnschilder und Einschränkungen der Pestizidausbringung in Bezug auf Tageszeit und Entfernung nicht ausreichend verhindert werden. An 73 Prozent der beprobten Standorte konnten immer noch Rückstände von mindestens einem Pestizid nachgewiesen werden, ebenso verhielt es sich mit Fungiziden (74 Prozent Nachweise). Der prozentuale Anteil der Rückstände von Pestiziden, die als schädigend für die menschliche Fortpflanzung klassifiziert sind, sei deutlich gestiegen, und zwar von 21 Prozent im Jahr 2014 auf 88 im Jahr 2020. Der Prozentsatz der Stoffe mit Potenzial zur Hormonschädigung (89 Prozent) oder zur Verursachung von Krebs (45 Prozent), sei während des Untersuchungszeitraums unverändert hoch geblieben.
„Ewigkeitschemikalien“: PFAS im Blut nachweisbar
Neun von zwölf ChemSec-Teammitgliedern überschreiten den von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) festgelegten Richtwert für Per- und polyfluorierte Chemikalien (PFAS). Drei Viertel der Crew überschritten den Richtwert von 6,9 Nanogramm pro Milliliter (ng/ml), der Durchschnitt lag bei 7,1 ng/ml. Der höchste PFAS-Wert lag bei 11,3 ng/ml, der niedrigste bei 2,3 ng/ml, meldete die Organisation am Montag. Auch wenn die Anzahl der Proben gering ist, Daten zeigen, dass PFAS überall sind – besonders Teenager hätten hohe Werte. Das Problem: PFAS sind extrem langlebig, reichern sich in Organismen und Umwelt an und bauen sich auch nicht ab. PFAS werden mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen wie Unfruchtbarkeit, Krebs, geringerem Geburtsgewicht und Störungen des Immunsystems in Verbindung gebracht. Es handelt sich um eine Stoffgruppe mit über 4.700 einzelnen Chemikalien, die ChemSec-Crew ließ sich auf 12 davon testen.
Im Januar soll die Europäische Chemikalienagentur ECHA einen Vorschlag für ein umfassendes Verbot von PFAS vorlegen. In der Industrie regt sich Widerstand (Video von Strg + F über PFAS), aber auch Unterstützung (PFAS Movement).
Post für von der Leyen: Planetare Grenzen überschritten, Reform muss zügig kommen
ChemSec hat am 26. September einen offenen Brief an die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geschickt, in dem die Organisation sie aufforderte, trotz des wachsenden Drucks seitens der Industrie, die ehrgeizige Agenda des Green Deal und der Nachhaltigkeitsstrategie für Chemikalien auszubremsen, die Verpflichtungen zur Nachhaltigkeit weiter voranzutreiben.
Ähnlich argumentierte ein gemeinschaftliches Schreiben von rund 20 Umwelt- und Gesundheitsorganisationen: Es sei höchste Zeit, die EU auf den Weg zu einer giftfreien Umwelt zu bringen. Noch nie zuvor seien so viele Frauen, Männer und Kinder so stark durch Chemikalien belastet gewesen, was die europaweite Human-Biomonitoring-Studie HBM4EU bestätigt habe. Die planetarischen Grenzen, von Menschen gemachte Chemikalien natürlich abzupuffern, seien bereits überschritten. Es müssten rasche Maßnahmen folgen. Die versprochenen Überarbeitungen von REACH und CLP böten hierzu eine einmalige Gelegenheit, um einen besseren Schutz für die EU-Bevölkerung zu erreichen. Diese Reform sei auch notwendig, um fortschrittliche Unternehmen zu unterstützen. Doch der Prozess stocke – was letztlich auch die Glaubwürdigkeit der Kommission und des Green Deal untergrabe. „Selbst einige Monate Verzögerung bei den versprochenen REACH- und CLP-Reformen könnten in der Praxis eine jahrelange Umweltverschmutzung bedeuten“. Das Bündnis forderte, die Fristen für die Reformen der CLP-Verordnung bis Oktober 2022 und der REACH-Verordnung bis spätestens März 2023 einzuhalten. Das Schreiben wurde unter anderem unterstützt vom Europäischen Umweltbüro (EEB), HEAL, ClientEarth und WECF. [jg]
ChemSec: Don’t believe everything you hear — European chemical industry is doing fine
PAN Europe: Pesticide Paradise: How industry and officials protected the most toxic pesticides
PAN Germany: Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen vor Pestizidbelastungen reichen nicht aus
ChemSec: We tested our blood for PFAS and this is what we found out
ChemSec: Dear Mrs. President, hold on to your promises
EEB et al.: High time to make certain that the EU is on the right path to a toxic-free environment