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News | 05.04.2023
#Klima und Energie

Im Kern gefährlich

In einem Atomkraftwerk
© Pixabay
In einem Atomkraftwerk

Bald jährt sich der Super-GAU von Tschernobyl zum 27. Mal, die Katastrophe von Fukushima liegt 12 Jahre zurück und am 15. April sollen die drei noch laufenden Atomkraftwerke in Deutschland endgültig vom Netz. Schon im Normalbetrieb ist radioaktive Strahlung potenziell gesundheitsgefährdend, nach einer Havarie ist die Gesundheitsgefahr für alle gravierend. Für einen echten Strahlenschutz ist die Senkung der Dosisgrenzwerte nötig, sagt Jörg Schmid von den Internationalen Ärzt*innen zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW).

Keine qualmenden Schornsteine, die schädliche Treibhausgase in die Luft pusten, keine krankheitserregenden Feinstäube: Wie gesund lebt es sich in der Umgebung von Atomkraftwerken?

Die gesundheitlichen Gefahren im Normalbetrieb von Atomanlagen werden aus meiner Sicht nicht wahrgenommen, gerne verschwiegen und verdrängt. Dabei trifft ein Risiko durch eine radioaktive Umgebungsbelastung auch schon bei kleineren ionisierenden Dosen die gesamte Bevölkerung, die im Umkreis einer Atomanlage wohnt. Am sichtbarsten sind die gesundheitlichen Auswirkungen bei den vulnerablen Gruppen wie den Kleinkindern. 2007 wurde in Deutschland die KiKK-Studie veröffentlicht, eine Untersuchung über die Erkrankungswahrscheinlichkeit von Kindern in der Umgebung von Atomkraftwerken. Die Studie fragte einen großen Zeitraum ab, fast 25 Jahre Atomenergie in der Bundesrepublik und kam zum Ergebnis: Je näher ein Kleinkind unter 5 Jahren an einem Atomkraftwerk gewohnt hat, desto größer war die Erkrankungswahrscheinlichkeit für das Kind, an Krebs oder Leukämie zu erkranken. Hochsignifikant waren die Ergebnisse im Nahbereich, das heißt näher als 5 Kilometer. Diese Studie wurde auch mit Kleinkindern in Großbritannien, in der Schweiz und in Frankreich gemacht, mit ähnlichem Ergebnis. Die Ergebnisse wurden offiziell klein geredet mit dem Argument, die Umgebungsradioaktivität sei so gering, dass diese keine Krankheiten auslösen könne.

Eine Studie des BUND vom vergangenen Herbst zeigt ebenfalls die Gesundheitsrisiken durch radioaktive Strahlung auf. Welche Krankheiten treten denn hier gehäuft auf?

Diese Arbeit differenziert sehr genau zwischen den von Strahlung unterschiedlich betroffenen Bevölkerungsgruppen. Festangestellte Mitarbeiter in AKWs sind anders gefährdet als Leiharbeiter, die von Anlage zu Anlage ziehen. Die Normalbevölkerung ist wiederum anders gefährdet, als diejenigen, die direkt in der Nähe von Atomanlagen leben. Wir müssen uns vor Augen halten: Radioaktive Strahlung im Niedrigdosisbereich verursacht sogenannte stochastische Zellschäden. Das heißt, dass es bei einzelnen Zellen aufgrund der Strahlung zu einer Mutation kommt, die sich dann erst nach Jahrzehnten zu einer Vielzahl von Krebs- oder Tumorerkrankungen, aber auch zu einer Herz- und Kreislauferkrankung ausprägen kann. Es gibt Reparaturmechanismen in uns Menschen, deshalb führt nicht jede Zellmutation automatisch zu einer Erkrankung. Der grundlegende Schädigungsmechanismus ist wissenschaftlich schon über ein Jahrhundert bekannt. (Die Zellmutation durch Strahlen entdeckte bereits 1920 der US-amerikanische Biologe und Genetiker Hermann Joseph Muller, wofür er 1946 den Nobelpreis erhielt; die Red.).

Was bedeutet es für die Beschäftigten von Atomkraftwerken, die täglich eine Atomanlage betreten, also am höchsten exponiert sind?

Im Vergleich zur Normalbevölkerung gilt für Atomarbeiter gemäß der Strahlenschutzverordnung ein um den Faktor 20 höherer Grenzwert pro Jahr. Sie werden regelmäßig strahlenmedizinisch überwacht, zumindest die Festangestellten. Die bekannteste und umfangreichste Studie zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Beschäftigten ist die  Inworks-Studie aus dem Jahr 2015. Die Studie schließt über 300.000 Atomarbeiter aus Frankreich, USA und England ein. Alle habe mindestens ein Jahr lang in einem AKW gearbeitet. Das Ergebnis der gesundheitlichen Untersuchungen: erhöhte Leukämieraten. Und es gab einen linearen Trend selbst bei niedrigen Strahlendosen. Dadurch dass Atomarbeiter ständig ein Dosimeter tragen müssen, kann man hier die tatsächlich erhaltene Dosis mit den gesundheitlichen Auswirkungen vergleichen. Aus dieser Studie folgt unsere Forderung, dass für strahlenexponierte Arbeitnehmer*innen eine Senkung der geltenden Grenzwerte mindestens um den Faktor 10 medizinisch sinnvoll ist.

Jörg Schmid
Wir haben eine andere Option für den Rückbau vorgeschlagen, nämlich einen Teilabriss und das Stehenlassen nach Entkernung. Damit würde die Gefährdung beim Abbauprozess minimiert.
Jörg Schmid, IPPNW

Wenn die letzten drei AKWs in Deutschland abgeschaltet sind, steht der Rückbau an, der voraussichtlich Jahrzehnte dauern wird. Worauf ist zum Schutz der Arbeiter*innen zu achten, die den Abriss durchführen?

Für den Rückbau werden formalrechtlich sogar neue Atomanlagen auf dem Gelände aufgebaut. Die kontaminierten Abrissmaterialien muss man zersägen, sandstrahlen; sie werden abgewaschen, dekontaminiert. Hinzu kommt die Umverpackung in sogenannte Big Packs. Es gibt die Transportbereitstellung, den eigentlichen Transport und dann die Einlagerung auf einer der Deponien. Alle diese Tätigkeiten gefährden potenziell die damit Beschäftigten, hauptsächlich durch die Inhalation radioaktiver Stäube. Aber auch eine direkte Strahleneinwirkung ist möglich. Und die Umweltbelastung nimmt insgesamt zu. Denn ein Rückbau schafft nicht weniger Abfall, sondern mehr und immer neuen. Es fällt hauptsächlich gering kontaminierter Abfall an, in einer Größenordnung von Hunderttausend Tonnen pro AKW. Diese werden „freigemessen“ und gelten damit formal als nicht mehr radioaktiv – obwohl sie weiter gering strahlen und deshalb eben nicht ungefährlich sind. Sie werden deponiert, aber auch in Müllverbrennungsanlagen verbracht. Brisant ist die Wiederverwertung dieser Abfälle (Beton, Metall), weil sie dann unerkannt in unserem Alltag auftauchen. Die IPPNW hat eine andere Option für den Rückbau vorgeschlagen, nämlich das „Stehenlassen des AKWs nach Entkernung“. Dieses Konzept sieht nur einen Teilabriss vor, bei dem man die hoch-, mittel- und schwachkontaminierten Materialien herausnimmt und alles andere stehen lässt. Damit würde die Gefährdung beim Abbauprozess minimiert.

Wird einer der Atomkraftwerksbetreiber diese Methode anwenden?

Keiner wird das anwenden, weil die Bundesregierung das Ziel einer „grünen Wiese“ verfolgt. Der Rückbau bis auf die Grundfundamente ist mittlerweile gesetzlich vorgeschrieben.

Die festgelegten Dosisgrenzwerte oder Schwellenwerte für eine Strahlenexposition gelten keineswegs als „unbedenklich“. Was muss für einen besseren und wirksamen Strahlenschutz geschehen?

Nach dem Stand der strahlenepidemiologischen Forschung ist die Senkung der Dosisgrenzwerte unbedingt nötig. Bisher gelten veraltete Rechenmodelle und fehlerhafte Abschätzungen, was insgesamt zu einer Unterschätzung des Strahlenrisikos für uns Menschen geführt hat. Zudem muss das Minimierungsprinzip tatsächlich angewandt werden. Das heißt, wenn es technisch möglich ist, muss Strahlung vermieden werden, auch unterhalb der geltenden Grenzwerte. Das aktuell geltende wissenschaftliche Modell der Strahleneinwirkung besagt nämlich, dass es keine Schwelle gibt, unterhalb derer keine gesundheitliche Auswirkung besteht. Wir können auch unterhalb von Grenzwerten die Gefährdung der Bevölkerung nicht ausschließen.

Ist es denn technisch möglich?

Das kommt auf die Sichtweise an. Wenn wir über technische Alternativen verfügen, zum Beispiel ein anderes Rückbaukonzept, das die Strahlung minimiert, weil es die Rückbauarbeiten auf Weniges, Wichtiges begrenzt, haben wir schon eine Minimierungsmöglichkeit. Man muss es nur politisch umsetzen wollen.

Würden die Langzeitfolgen eines GAUs objektiv betrachtet, das Leiden der Bevölkerung tatsächlich dokumentiert und wahrgenommen, und auch die zusätzlichen finanziellen Auswirkungen berücksichtigt, jeder Weiterbetrieb, jeder AKW-Neubau würde sich sofort verbieten.
Jörg Schmid, IPPNW

Im Fall einer Havarie sind die Folgen für Gesundheit und Umwelt noch gravierender. Neben einer erhöhten Anzahl von Krebserkrankungen ist auch das gesamte Ökosystem in verstrahlten Gebieten für lange Zeit geschädigt. Was fordern Sie, damit dies in Zukunft nicht mehr passiert?

Ihre Beschreibung trifft die Wirklichkeit in der Umgebung von Tschernobyl und Fukushima. Aber die radioaktiven Langzeitfolgen für die Bevölkerung und Umwelt werden international nicht angemessen berücksichtigt. Denn die Internationale Atomenergiebehörde und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind eingebunden in die Interessen der Atomlobby. Die WHO ist keine unabhängige medizinische Organisation. Sie verhindert kritische Forschung, zum Beispiel in Fukushima, wo ja weltweit ein Interesse hätte bestehen müssen, die tatsächlichen radiologischen Folgen zu untersuchen. Aber bis auf die Schilddrüsenuntersuchung für Kinder und Jugendliche ist seitens der WHO nichts gefordert worden. Würden die Langzeitfolgen eines GAUs (größter anzunehmender Unfall; die Red.) objektiv betrachtet, das Leiden der Bevölkerung tatsächlich dokumentiert und wahrgenommen, und auch die zusätzlichen finanziellen Auswirkungen berücksichtigt, jeder Weiterbetrieb, jeder AKW-Neubau würde sich sofort verbieten. Genau diese Transparenz fordern wir. Die Gesellschaft hat den Tabubruch begangen, durch die AKWs unseren Nachfahren ein dauerhaft hoch-strahlendes Erbe zu hinterlassen, das nicht noch weiter anwachsen darf. Deshalb müssen die AKWs weltweit jetzt abgeschaltet werden.

Wie sieht Ihr Gegenentwurf für eine Welt ohne strahlende Zukunft aus?

Als IPPNW betrachten wir kritisch zwei Seiten der atomaren Technologie, nämlich die zivile und die militärische. Für den zivilen Bereich steht fest: Atomenergie ist gefährlich, im Normalbetrieb besteht ein Gesundheitsrisiko, bei einem Unfall steigt dieses exorbitant. Atomenergie ist auch vom Wirkungsgrad her ineffektiv, viel zu teuer, sie ist nicht zuverlässig, wie der Wassermangel im vergangenen Jahr in Frankreich deutlich machte. Und in Kriegszeiten stellt sie eine nicht hinnehmbare, ernste Gefahr für uns alle dar. Deshalb müssen die Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Für den militärischen Bereich heißt eine Welt ohne strahlende Zukunft: Atomare Abrüstung sicherstellen, den Atombombenverbotsvertrag unterzeichnen. Positiv ausgedrückt heißt das: Wir streben friedliche Konfliktlösungen an und den Ausbau erneuerbarer Energien.

Das Interview führte Marion Busch.

Der Interviewpartner

Dr. Jörg Schmid ist niedergelassener Arzt in Stuttgart und im Arbeitskreis Atomenergie der Internationalen Ärzt*innen zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) tätig.

 

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