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100 Tage Bundesregierung – ein ernüchternder Neuanfang
News | 14.08.2025
#Biodiversität und Naturschutz #Klima und Energie #Landwirtschaft und Gentechnik #Politik und Gesellschaft

100 Tage Bundesregierung – ein ernüchternder Neuanfang

Zwei Hande zerreißen einen Notizzettel - auf der einen Hälfte steht "Pro", auf der anderen "Contra"
© pixabay / Alexas_Fotos

Mitte August war die Bundesregierung 100 Tage im Amt. Zeit für eine erste Bilanz. Die sieht aus Umweltsicht verhalten aus. 

Am 5. Mai unterzeichneten CDU, SPD und CSU ihren Koalitionsvertrag, am 6. Mai wurde Friedrich Merz im zweiten Wahlgang zum Bundeskanzler gekürt. Dass die Koalition zwischen Union und Sozialdemokraten keine Liebeshochzeit war, wissen alle, insofern ist es auch konsequent, dass die CDU in ihrer Aufzählung der „10 wichtigsten beschlossenen Maßnahmen“ der ersten Amtszeit die Koalition eine „Arbeitskoalition“ nennt. Unter dem Motto „Der Politikwechsel hat begonnen“ zählt die Partei auf ihrer Haben-Seite unter anderem das Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz, das Senken von Energiepreisen und Aufhebung der Pflicht einer Stoffstrombilanz in der Landwirtschaft auf. Dass Umweltverbände auf diese Bilanz, zu der unter anderem eine dauerhaft gesenkte Stromsteuer für energieintensive Unternehmen und die Gefährdung der Nitratziele fürs Grundwasser gehören, eine etwas andere Perspektive haben, überrascht wenig. Von Migrations- und Entwicklungsorganisationen, Sozialverbänden und Gewerkschaften ganz zu schweigen.

„Klimapolitische Rückwärtskoalition“ auf „Pro-Gas-Kurs“ und erste Trippelschritte in Richtung Infrastrukturinvestitionen

Kai Niebert, Präsident des Umwelt-Dachverbands DNR kritisierte gegenüber Table.Media, dassKlimapolitik im schwarz-roten Kabinett ein Nebenschauplatz“ geblieben sei. „Der große Spielball der Regierung, das Sondervermögen, hätte die Grundlage für die Infrastruktur von morgen legen können“ – aber diese Chance sei verpasst worden, zudem spiele Schwarz-Rot „klimapolitisch ohne klare Abstimmung“. 

Auch der BUND fordert „eine konsequente Energiewende“ statt dem eingeschlagenen „Pro-Gas-Kurs“ und kritisiert die „klimapolitische Rückwärts-Koalition“ für ihre Entscheidung auf klimaschädliches Gas und das Ausbremsen Erneuerbarer harsch. Der Finanzminister wolle die Ausgaben für Klimaschutz senken und erhöhe gleichzeitig die fossilen Subventionen. „Das sind verheerende Signale für die klimagerechte Modernisierung des Landes, für Zukunftsmärkte und den Klimaschutz“, so die BUND-Geschäftsführerin Politik Verena Graichen. Die Bundesregierung müsse im geplanten Klimaschutzprogramm endlich die nötigen CO₂-Einsparungen im Verkehr und bei Gebäuden gewährleisten. Weder dürfe das sogenannte Heizungsgesetz ausgehöhlt, noch dürften die Energiewende gestoppt und massenweise Gaskraftwerke finanziert werden. Vom klimaschädlichen Pro-Gas-Kurs der Wirtschaftsministerin Katherina Reiche profitiere hauptsächlich die Gas-Lobby, so der BUND.

Ähnlich reagierte die Deutsche Umwelthilfe (DUH) auf die „bittere Bilanz für Umwelt- und Klimaschutz“. Zentrale Maßnahmen seien in sämtlichen Bereichen „verschleppt oder sogar rückabgewickelt“ worden, kritisierte die Organisation. Zu Recht habe sich Agrarminister Alois Rainer für seine Ministerverordnung zur Abschaffung der Stoffstrombilanz eine Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht eingehandelt.

DUH-Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner ergänzt: „Besonders hart unter dem Regierungswechsel leidet die Energiewende. Mit einem sogenannten ‚Realitätscheck‘ will Ministerin Reiche den zukünftigen Bedarf an Strom aus Erneuerbaren Energien künstlich kleinrechnen und betreibt damit Klientelpolitik erster Güte für die großen Gaskonzerne.“ Dazu zählten auch die „überdimensionierten Ausbaupläne für Gaskraftwerke“ und der Versuch, die Rahmenbedingungen für private Solaranlagen „so unattraktiv wie möglich zu machen“. Reiche verkenne damit, wie viele Menschen in Deutschland ihren Beitrag zur Energiewende leisten wollten, so die DUH. Zudem sei Deutschland rechtskräftig zu mehr Klimaschutz im Landnutzungssektor verurteilt worden. Nun müsse die Bundesregierung schnellstmöglich das Klimaschutzprogramm anpassen und mit der Wiederherstellung der Natur verknüpfen, forderte die DUH.

Auch der NABU schaut „besorgt auf die Regierungsführung von Bundeskanzler Friedrich Merz“. Echte Impulse für den Naturschutz seien bislang ausgeblieben. Planungsbeschleunigung und Bürokratieabbau, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, dürften zudem nicht dazu führen, dass „Beteiligungsrechte der Öffentlichkeit auf der Strecke“ bleiben. „Ohne entsprechende Gründlichkeit werden Planungsprozesse fehleranfälliger und am Ende oft sogar langsamer“, warnt Dr. Kim Detloff, Fachbereichsleiter Politik beim NABU. Positiv bewertet der NABU das Sondervermögen Infrastruktur. Der Investitionsstau bei Schienen, Brücken, Schulen und Digitalisierung sei inzwischen zur Belastung für die Menschen in Deutschland geworden. „In den bisherigen Überlegungen der Bundesregierung fehlen jedoch dringend notwendige Investitionen in den Klima- und Naturschutz“, so der NABU. Begrüßenswert sei, dass der im Koalitionsvertrag verankerte Sonderrahmenplan Naturschutz und Klimaanpassung auch im Entwurf für den Bundeshaushalt 2026 vorgesehen ist. Allerdings müssten dann auch tatsächlich wirksame Naturschutzmaßnahmen finanziert werden. 

Weitere Reaktionen 

Transparency International sieht Rückschritte „in Sachen Transparenz und Korruptionsbekämpfung“ und fordert eine Kurskorrektur. Der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) konstatiert „positive Anfänge, aber auch viele offene Baustellen und falsche Weggabelungen“ und bescheinigt dem ersten Anstoß „zu wenig Schubkraft“. Die Heinrich Boell Stiftung kritisiert mit Bezug auf die Rekordsummen, die diese Regierung zur Verfügung hat, dass allein 3,4 Milliarden Euro aus dem Klima- und Transformationsfonds für die Subventionierung des Gaspreises zweckentfremdet werden sollen und befürchtet, dass das scheinbar dahinterstehende Prinzip „Wahlgeschenke für einzelne statt Wohlstand für alle“ die „Zukunft der Volkswirtschaft und unserer Kinder“ aufs Spiel setzen könnte.

Auch in den Medien wurden erste 100-Tage-Bilanzen gezogen. Während die Frankfurter Rundschau sich bei den Kurzbeschreibungen der ministerialen Leistungen markige Titel findet (Umweltminister Carsten Schneider ist „der Unauffällige“, Landwirtschaftsminister Alois Rainer wird zum „Rückwärtsgewandten“ und Wirtschaftsministerin Katherina Reich zur „Fossilen“), interviewt Radio Eins den ARD-Hauptstadtkorrespondenten Jan Frederic Willems zur bisherigen Klimaschutzbilanz. Willems stellt fest, dass sich trotz einiger entsprechender Ziele zeige, dass dies „keine Klimaschutz-Koalition“ sei. Der Umweltminister Carsten Schneider (ein „pragmatischer Typ“) habe aber das Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz gestärkt und mehr Geld vom Bund zugesagt. Gleichzeitig soll aber CO₂ auch unter der Erde verklappt werden dürfen. Die bisherige interministerielle Zusammenarbeit sei auch nicht immer ideal verlaufen. Zwar habe Schneider laut Willems einen ganz guten Draht zum Verkehrsminister Patrick Schnieder, das Verhältnis zu Wirtschaftsministerin Reiche sei dagegen „schwieriger“, wie man am Beispiel des Streites um die Finanzierung von Atomkraft auf EU-Ebene (Reiche: ja, Schneider: nein) gesehen habe. Auch die Tagesschau sieht eher eine „Ernüchterung bereits nach 100 Tagen“. 

Und jetzt?

Die Bundesregierung muss nun jedenfalls bis Ende 2025 das Klimaschutzgesetz anpassen und auch die Kosten des Klimawandels mit Hilfe eines Klimaschutzsozialplans abfedern. Die Umweltverbände werden die politischen Prozesse weiter eng begleiten. [jg]

 

Pressemitteilungen:

Artikel Table-Media: 100 Tage Schwarz-Rot

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