Bringt der EU-Aktionsplan die Chemieindustrie auf Kurs in Richtung Klimaneutralität?

Während die vorbereitende Arbeit an der Revision der EU-Chemikalienverordnung REACH voranschreitet, werfen wir erneut einen kritischen Blick auf den im Juli vorgestellten Action Plan für die Chemieindustrie der EU-Kommission. An sich eine wichtige Weichenstellung – reichen aber die enthaltenen Vorschläge, um die Branche wirklich zukunftsfähig zu machen? Denn klar ist: Die Chemieindustrie steht vor großen Herausforderungen.
Eine Analyse von Johanna Wiechen, Germanwatch
EU-Industriekommissar Stéphane Séjourné hat nun auch die Chemiebranche in den Fokus genommen. Während sich für andere energieintensive Industrien wie Stahl oder Zement bereits klarere Transformationspfade abzeichnen, steht die Chemieindustrie auf ihrem Weg zur Klimaneutralität noch vor vielen Fragezeichen und großen Herausforderungen. Sie muss nicht nur ihre Produktionsprozesse auf erneuerbare Energie umstellen, wo immer möglich durch direkte Elektrifizierung; sondern auch beim stofflichen Input – also bei den eingesetzten Rohstoffen – den Ausstieg aus den Fossilen meistern.
Mit dem Chemicals Industry Action Plan liegt ein Maßnahmenpaket auf dem Tisch, das aus zwei zentralen Bausteinen besteht:
- Einem Aktionsplan zur Stärkung der europäischen Chemieindustrie,
- einem sogenannten „Omnibus“-Paket zur Vereinfachung bestehender Regulierungen.
Kann der neue Aktionsplan tatsächlich den Weg in eine zukunftsfähige, defossilisierte Chemie weisen?
Was der Plan verspricht – und was er offenlässt
Der Fokus des Aktionsplans auf Resilienz, Wettbewerbsfähigkeit, bezahlbare Energie und Dekarbonisierung ist sinnvoll. Aber eine ganzheitliche Vision für eine defossilisierte Chemie in Europa bleibt bislang aus. Der Plan bietet wenig neue konkrete Maßnahmen, die der Branche tatsächlich die nötige Investitionssicherheit für den Wandel geben würden und listet stattdessen viele Vorhaben auf, die ohnehin bereits angekündigt oder schon auf dem Weg sind.
Denn klar ist: Bürokratieabbau und sinkende Energiepreise allein werden den tiefgreifenden Umbau nicht ermöglichen. Auch der CO₂-Preis entfaltet in der Chemiebranche bisher kaum Wirkung – vor allem, weil 1. die Branche in weiten Teilen noch die freie Zuteilung von Zertifikaten genießt und 2. weil die meisten Emissionen in der Chemiebranche end-of-life anfallen und damit nicht beim Erzeuger fällig werden. Zusätzlich wird der ETS aus der Industrie immer stärker in Frage gestellt und die Forderungen nach einem Abschwächen des Instruments werden aktuell immer lauter.

Was enthält der EU-Aktionsplan? Grafische Übersicht mit Legende für die Abkürzungen
Der zweite Teil des Aktionsplans – der sogenannte Omnibus – wurde von vielen Umweltorganisationen zurecht kritisiert: Vereinfachung darf nicht zulasten von Umwelt- und Gesundheitsschutz gehen. Und sie wird allein kaum ein Game Changer für die Branche sein. Werfen wir deshalb einen genaueren Blick auf vier zentrale Themenfelder aus dem für die Defossilisierung wichtigen ersten Teil des Aktionsplans:
- Resilienz: Um die industrielle Resilienz der EU zu stärken, möchte die Kommission eine Critical Chemical Alliance aufbauen. Diese soll im Dialog mit den Mitgliedsstaaten und betroffenen Stakeholdern die Risiken von Produktionskapazitätsschließungen und Handelskonflikten diskutieren.
Wichtig ist dabei: Diese Plattform darf nicht zur reinen Industrieinitiative werden. Es braucht den Einbezug von Umweltorganisationen, Gewerkschaften und weiteren gesellschaftlichen Gruppen, um ökologisch und sozial tragfähige Lösungen zu erarbeiten. Zudem wirft die Diskussion um kritische Chemikalien und Clusterbildung neue Fragen auf: Welche Produkte gelten als unverzichtbar? Und wie können regionale Wertschöpfungsketten gestärkt werden, ohne in alte Pfadabhängigkeiten zurückzufallen? - Kreislaufwirtschaft: Beim Thema Circular Economy setzt der Action Plan wichtige Signale – etwa durch den Verweis auf den Circular Economy Act. Doch in den konkreten Maßnahmen wird vor allem auf das Chemische Recycling verwiesen und die Massenbilanzierung als alleiniges Heilmittel stilisiert.
Vielmehr muss die Reduktion des Primärstoffbedarfs oberste Priorität haben. Denn sie ist ein zentraler Hebel für Ressourcenschonung, Standortstärkung und Emissionsminderung. Automatisierte Sortieranlagen, Mehrwegsysteme, Product-as-a-Service-Modelle und der Einsatz hochwertiger Sekundärrohstoffe bieten hier enorme Potenziale – sie müssen stärker gefördert und systematisch erschlossen werden. - CCUS – Carbon Capture, Utilisation and Storage: Technologien zur CO₂-Abscheidung und -Nutzung (CCUS) können ein Element der Transformation sein – aber keine Ausrede für fehlende strukturelle Veränderungen. Besonders kritisch ist die geplante Anrechnung von nicht-permanenten CCU-Produkten im EU-ETS. Eine gemeinsame Analyse von Germanwatch, NABU und Bellona zeigt, dass strenge Anforderungen erfüllt sein müssen, damit CCU tatsächlich als effektive Emissionsminderung anerkannt werden kann.
- Leitmärkte für grüne Chemie: Positiv ist die Ankündigung, Leitmärkte für nachhaltige chemische Produkte zu etablieren – etwa durch Kriterien in der öffentlichen Beschaffung. Auch im Rahmen des Industrial Decarbonisation Accelerator Acts (IDAA) sollen spezifische Nachhaltigkeits-Labels für chemische Produkte entwickelt werden. Denn auch wenn ihre Entwicklung für den Chemiesektor deutlich herausfordernder ist als für andere Sektoren, ist ihr Potenzial für einen Hochlauf der Nachfrage nach grünen Chemieprodukten auf öffentlichen und insbesondere privaten Märkten enorm.
Fazit: Transformation braucht politische Klarheit – und echten Gestaltungswillen
Die kürzlich angekündigten Werksschließungen – etwa durch DOW im mitteldeutschen Chemiedreieck – zeigen: Ohne klare politische Leitplanken droht der Verlust ganzer Wertschöpfungsketten. Der Umbau zur Klimaneutralität der Chemiebranche kann gelingen – aber nur, wenn jetzt konsequent gehandelt und Prioritäten gesetzt werden. Die EU-Kommission hat mit dem Action Plan einen ersten Impuls gesetzt. Statt aber jetzt den Rufen aus der Industrie für eine Aufweichung des Emissionshandels zu folgen, müssen klare Rahmenbedingungen gesetzt werden, um die energetische und auch stoffliche Defossilisierung zu ermöglichen.
Auch auf nationaler Ebene ist Bewegung spürbar: Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wurde eine Chemieagenda 2045 angekündigt. Noch ist unklar, wie diese ausgestaltet wird. Klar ist: Statt vager Absichtserklärungen und kurzfristiger Entlastungsmaßnahmen braucht es jetzt Mut, politische Klarheit und konkrete Instrumente. Der Umbau muss wirtschaftlich tragfähig, ökologisch wirksam und sozial gerecht gestaltet werden.
Zur Autorin
Johanna Wiechen ist Referentin für Industrietransformation und Kreislaufwirtschaft bei der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch e.V.
In ihrer Arbeit betrachtet sie insbesondere die Transformation des Chemiesektors und die Möglichkeiten zur Defossilisierung des Feedstocks.
