„Junge Menschen wollen wählen und sie sind wählerisch“
Viel wird geredet über das Politikverständnis von jungen Leuten. Wir haben Eva Feldmann-Wojtachnia dazu befragt. Die Politikwissenschaftlerin redet nämlich nicht vornehmlich über junge Menschen, sondern mit ihnen. Das ist besonders interessant, weil bei dieser EU-Wahl zum ersten Mal in Deutschland ab 16 gewählt werden darf.
Interview
Sie forschen seit rund 30 Jahren zu Jugend und Europa. Gibt es ein Thema, das Sie in Ihrer Arbeit schon lange begleitet?
Immer wieder bemerkenswert finde ich, wie sehr man sich auf das Bild der Politikverdrossenheit von jungen Menschen eingeschossen hat. Das trifft nicht zu. Sie sind höchstens politikerverdrossen. Politik selbst hingegen interessiert sie sehr. Das sieht man zum Beispiel an Fridays for Future. Diese Bewegung hat viele überrascht, was wiederrum mich überrascht hat. Natürlich haben junge Leute Ideen. Sie wollen sich einbringen und sie nehmen Politik sehr ernst. Sie wollen wählen und sie sind wählerisch. Und vor allem haben sie ein starkes Bedürfnis nach Dialog. Darauf muss die Politik eine Antwort finden.
Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Frühjahr haben jüngere Menschen in Deutschland viel Vertrauen in die EU. Wie deckt sich das mit Ihren Erkenntnissen?
Wissenschaftliche Studien wie die Shell-Jugendstudie zeigen über Jahre, dass das Vertrauen in die EU sehr groß ist. Junge Menschen haben eine positive Sicht. Einerseits weil die EU im internationalen Rahmen versucht, den Klimawandel anzugehen und andererseits, weil die jungen Leute den europäischen Werten, und hier besonders der Solidarität, großen Raum beimessen. Außerdem gibt es die eine, rein nationale Identität für junge Menschen nicht. Jugendliche sind sehr mobil und sehen Vielfalt als Ermöglichungs- und Freiheitsraum. Aktuelle Studien des Forschungsnetzwerks RAY zeigen, dass die Europaverbundenheit bei jungen Menschen deutlich steigt, wenn sie an EU-Austauschprojekten teilgenommen haben oder im Freiwilligendienst engagiert waren.
Wenn der Bezug für junge Menschen mehr die EU als der Nationalstaat ist, kann man dann die These aufstellen, sie seien eine Brandmauer gegen Rechtspopulismus?
Nein. Erstens sind junge Menschen keine heterogene Gruppe, sie sind genauso divers wie der Rest der Gesellschaft. Außerdem darf man junge Menschen auch nicht überstrapazieren, schon gar nicht nach der Auffassung: Wenn es um Probleme geht, sollen die Jungen diese lösen. Wenn es aber um Mitwirkung, um Machtabgabe und Entscheidungen geht, dann sind sie nicht gefragt. Wir müssen den sozialen Zusammenhalt insgesamt stärken. Und dafür ist die Einbindung von jungen Leuten zentral.
Sie erwähnten schon den Klimawandel. Ist die Klimakrise das Topthema bei den jungen Leuten?
Ja, neben anderen. Untersuchungen auf Europaebene zeigen, dass sich 40 Prozent der jungen Menschen vom Europäischen Parlament „actions against climate change“ wünschen. Gleichzeitig wollen ebenfalls 40 Prozent mehr Anstrengungen beim Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Körperliche und psychische Gesundheit und Jobmöglichkeiten sind ihnen auch sehr wichtig, aber momentan stehen Frieden und Demokratie absolut im Vordergrund. Was auffällig ist: Junge Menschen betrachten diese Themen nicht als isolierte Politikbereiche. Das müssten Umfragen in ihrem Design künftig deutlicher berücksichtigen, um die Einstellungen junger Menschen besser sichtbar zu machen.
Wie hat sich denn die Einstellung gegenüber der EU in den letzten Jahrzehnten verändert?
Die Einstellung war schon immer positiv, aber das Verhältnis ist auf jeden Fall intensiver, differenzierter und konstruktiver geworden. Die EU wird als Chance, nicht als Risiko empfunden. Das Dauerthema ist aber geblieben: Wie kann der Dialog von Jugend und Politik gelingen? Und wie können die Belange junger Menschen besser Gehör finden?
Der Großteil der jungen Menschen informiert sich, zum Beispiel laut einer Bitkom-Studie von 2023, hauptsächlich über Social Media. Wie schätzen Sie die Kommunikation der EU mit jungen Leuten ein?
Die EU wählt nicht die richtige Ansprache und erreicht die Zielgruppe kaum. Das kann man ganz klar mit einem Ausrufezeichen versehen. Die Internet- und Social Media-Auftritte der EU sprechen junge Menschen nicht wirklich an, wenn sie diese denn überhaupt finden. Die Kanäle werden eher von einer älteren Generation gemacht, das merken Jugendliche. Die Kommunikation wirkt auf sie zu bemüht oder zu kompliziert. Hier sollte die EU junge Leute ranlassen. Und vor allem Geschichten erzählen, auf eine emotionale, positive und subjektorientierte Weise, indem sie über konkrete Projekte und deren Wirkungen spricht.
Was orakeln Sie, wie werden junge Menschen am 9. Juni wählen?
Das werde ich als Forscherin natürlich nicht beantworten können. Aber ich orakle gern, dass die jungen Leute ihre Chance ergreifen und ab 16 wählen gehen. Junge Leute haben sich stark an der letzten Wahl beteiligt. Und dieses Mal wird ihr Anteil vermutlich noch größer ausfallen. Die Beteiligung der 18- bis 20-Jährigen ist in den letzten 15 Jahren um knapp ein Viertel auf fast 60 Prozent angestiegen. Die spannende Frage lautet allerdings: Wie geht es danach weiter? Junge Menschen wollen keine „Instant-Partizipation“, die nur am 9. Juni erwünscht ist, aber danach wieder endet. Sie wollen sich auch darüber hinaus einbringen, gehört werden und mitentscheiden. Sind sie also nach den Wahlen für die Politik noch interessant?
[Interview: Adréana Hess]
Die Interviewpartnerin
Eva Feldmann-Wojtachnia leitet die Forschungsgruppe Jugend und Europa am Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das CAP ist Mitglied im europäischen Forschungsnetzwerk RAY (Research-based Analysis of the European Youth Programmes).