Finanzierungslücke im Naturschutz und Umsetzungsdefizite beim EU-Umweltrecht

Zum vierten Mal hat die Europäische Kommission analysiert, wie EU-Umweltrecht in den 27 EU-Staaten umgesetzt wird. Luft- und Wasserverschmutzung, Naturzerstörung und Abfall - schlicht: die Untätigkeit bei der Umsetzung von Vorschriften - kostet die EU jährlich etwa 180 Milliarden Euro, schätzt die EU-Kommission.
Auch Deutschland hat Nachholbedarf: Der Zustand von 63 Prozent der Arten und 69 Prozent der in der FFH-Richtlinie aufgeführten Lebensraumtypen gilt als „ungünstig-unzureichend“ oder „ungünstig-schlecht“, nur noch neun Prozent der Oberflächengewässer befinden sich in einem guten oder besseren ökologischen Zustand. Zwar lag die Recyclingquote von Verpackungsabfällen 2022 bei 69 Prozent, in Deutschland wird allerdings auch deutlich mehr Abfall als im EU-Durchschnitt erzeugt.
Gastbeitrag von Raphael Weyland, NABU
Am 7. Juli hat die EU-Kommission in Brüssel ihren vierten „Environmental Implementation Review“, also den Bericht über die Umsetzung von EU-Umweltrecht, vorgestellt. Der Bericht zeigt zum einen auf, dass die Mitgliedstaaten das von ihnen vereinbarte EU-Umweltrecht nicht ernst genug nehmen. Deswegen werden die mit den Gesetzen verbundenen Ziele oft nicht erreicht. Dies geht nicht nur zu Lasten von Natur und Umwelt, sondern auch von uns Bürger*innen. Auch in Deutschland gibt es Handlungsbedarf. Zum anderen zeigt der Bericht, dass die Mitgliedstaaten gerade auch für Naturschutzmaßnahmen nicht genug Geld in die Hand nehmen. Das kommt uns alle teuer zu stehen, denn die Folgekosten zerstörter Ökosysteme sind deutlich größer.
Finanzierungslücke im Natur- und Umweltschutz
Der Bericht stellt einleitend dar, dass EU-weit eine Finanzierungslücke von etwa 122 Milliarden Euro jährlich besteht, um die Umsetzung von EU-Umweltrecht zu vollenden. Dieser Betrag variiert zwischen den Mitgliedstaaten und betrifft die Bereiche Verschmutzung inklusive Wasserhaushalt, Naturschutz und Biodiversität (etwa 30 Prozent der Lücke), sowie Abfallbehandlung und Kreislaufwirtschaft. Demgegenüber stehen verursachte Kosten durch die Nichtumsetzung in Höhe von mindestens 180 Milliarden Euro jährlich EU-weit. Diese setzen sich zusammen aus den verschmutzungsbedingten Gesundheitskosten, aus Kosten von Folgeschäden sowie verminderter Ökosystemleistungen. Mit anderen Worten: Es käme die Mitgliedstaaten deutlich günstiger, die EU-Umweltrechtsakte vollständig umzusetzen, als die Folgeschäden zu begleichen. Die Finanzierungslücke im Naturschutz wird dabei auf jährlich 37 Milliarden Euro EU-weit beziffert. Leider findet sich diese Zahl nicht in den aktuellen Debatten über den nächsten Langfristhaushalt der EU (MFR) wieder (siehe hierzu auch den aktuellen Naturschätze.Retten-Beitrag von Lukas Traup hier).
Bürger- und Verbändebeteiligung als günstiger Hebel für bessere Rechtsumsetzung
Ein zweiter interessanter Punkt, den der Bericht macht, betrifft die Bürger- und Verbandsbeteiligung. Diese ist in letzter Zeit im Zusammenhang mit einer eher populistisch geführten Beschleunigungsdebatte in Verruf geraten. Der Bericht zeigt nun auf, dass die Bürger- und Verbandsbeteiligung in Umweltangelegenheiten im Gegenteil noch gestärkt werden muss, da sie effektiv zur Umsetzung von EU-Umweltrecht beiträgt. Der Bericht appelliert an die Mitgliedstaaten, ausreichende Vollzugskapazitäten in den Behörden zu schaffen, und betont die Bedeutung der (auch strategischen) Umweltverträglichkeitsprüfung sowie weiteren EU-Umweltrechts. Im Bericht nimmt sich die EU-Kommission auch selbst in die Pflicht, indem sie etwa auf erweiterte Klagemöglichkeiten in sektoralen Gesetzen hinweist oder auf die Auswertung einer Überarbeitung der Umwelthaftung in der Umweltschadensrichtlinie.
Auch Deutschland setzt EU-Umweltrecht nicht ausreichend um
Der zweite Teil des Berichts befasst sich mit den konkreten Umsetzungslücken in verschiedenen Politikbereichen.
- Entsprechend der verschiedenen Politikbereiche kritisiert der Bericht beispielsweise für den Sektor der Kreislaufwirtschaft, dass die Mitgliedstaaten noch weit von dem Ziel entfernt sind, bis 2030 eine Materialwiederverwertungsrate von mehr als 22 Prozent zu haben. Diese Kritik wird in Deutschland wohl auch durch das jüngst ergangene Vertragsverletzungsverfahren wegen nicht ausreichender Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie verstärkt (siehe den Hinweis im „Infringement Package“ der EU-Kommission vom 18. Juni hier).
- Der nächste Bereich ist der Gewässersektor, für den die Umsetzung verschiedener EU-Rechtsakte wie etwa der Wasserrahmenrichtlinie betrachtet wurden. Der Bericht kritisiert, dass die bisherigen Maßnahmenprogramme der Mitgliedstaaten nicht ausreichen, um die im Gesetz vereinbarten Ziele zu erreichen, und dass vor allem auch die Landwirtschaft größere Anstrengungen unternehmen muss, um Eutrophierung und Nitratbelastung zu reduzieren (das Aufheben der Stoffstrombilanz in Deutschland ist daher verfehlt, wie wir vor kurzem hier aufgezeigt haben).
- Ein weiterer Sektor ist der Verschmutzungsbereich sowie dann separat der Bereich Chemikalien. Zu erstem stellt der Bericht fest, dass Luftverschmutzung immer noch ein Hauptproblem in der EU ist, der direkte Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Hier ist die EU-Kommission bereits mit Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten vorgegangen und hat diese auch vor dem EuGH verklagt, auch Deutschland. Ein Problem ist weiter die Landwirtschaft mit Tierhaltung, Gülle und Düngemanagement.
- Schließlich widmet sich der Bericht dem Bereich Naturschutz. Er betont die Bedeutung der FFH- und Vogelschutzrichtlinie, und stellt heraus, dass der Artenschwund weiter voranschreitet. Der Bericht fordert die Mitgliedstaaten auf, das Schutzgebiets-Netz „Natura 2000“ besser zu managen und neue Schutzgebiete auszuweisen entsprechend der Ziele der EU-Biodiversitätsstrategie bis 2030 (sowie des Montrealer Weltnaturschutzabkommens).
- Neben dem Klimaschutzbereich, der unter anderem auf den Emissionshandel, die Effort-Sharing-Verordnung und LULUCF eingeht, betrachtet der Bericht auch die „Umwelt- bzw. Umsetzungs-Governance“ und Finanzierungsfragen. Hier wird vor allem auch Bedeutung der Umweltverträglichkeitsprüfung, von Umweltstraf- und Umweltschadensrecht sowie der Bürger- und Verbandsbeteiligung (also auch der Umsetzung der Aarhus-Konvention) betont.
Das kurze „Factsheet“ für Deutschland (hier) benennt dann als konkrete Herausforderung für Deutschland als ersten Punkt, dass der Zustand der Natur und Gewässer weiter verschlechtert habe. Als Haupttreiber wird mit die Landwirtschaft und Industrie-Verschmutzung genannt, die eine erhebliche Belastung für Gewässer und Böden darstelle. Nitrat sei einer der wesentlichen Stoffe, der dazu führe, dass der gute chemische Zustand des Grundwassers nicht erreicht wird. Der ausführliche Bericht für Deutschland findet sich hier.
Fazit
Die Kritik am unzureichenden Umsetzungsstand einmal vereinbarter Gesetzeskompromisse zwischen Rat, Parlament und Kommission deckt sich mit den Erfahrungen, die der NABU im Rahmen von Kommissionsbeschwerden und bei der Begleitung verschiedener Vertragsverletzungsverfahren sammeln mussten. So hat der NABU 2014 beispielsweise eine Vogelschutz- und eine Grünlandbeschwerde eingereicht. Die Grünlandbeschwerde führte nach 10 Jahren immerhin insofern zum Erfolg, als auf Klage der Kommission gegen Deutschland der EuGH (Rechtssache C-47/23) verbindliche Bewirtschaftungsvorgaben einforderte. Die vom NABU 2017 mit dem BUND eingereichte Beschwerde wegen unzureichender Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie (hier) führte zwar zu einem sogenannten „Pilotverfahren“, aber versandete sodann. Die Rebhuhnbeschwerde von 2020 (hier) wurde von der Kommission aufgrund politischer Erwägungen rund um die Bauernproteste gleich eingestellt, obwohl wir den aus unserer Sicht vorliegenden Rechtsverstoß ausführlich dargelegt hatten. Deswegen setze ich mich mit unseren Dachverbänden BirdLife Europe und dem Europäischen Umweltbüro (EEB) übrigens auch für weitergehende Verbesserungen im System der Vertragsverletzungsverfahren ein, zum Beispiel für eine transparente Veröffentlichung aller Verfahrens-Schriftstücke (siehe unsere Studie von 2020, hier, und Forderung von 2025, hier). Ich hoffe nun, dass der Kommissionsbericht (und mein Blog hierüber) ein wenig dazu beitragen, die Umsetzungsdefizite zu beseitigen. Denn wenn wir schon keine neuen Umweltrechtsakte beschließen, müssten die Mitgliedstaaten doch zumindest die Verantwortung zeigen, bereits vereinbartes Umweltrecht umzusetzen. Wenn nicht, und das zeigt der Bericht, geht dies zu Lasten der Bürger, Natur und Umwelt, und kostet den Steuerzahler auch deutlich mehr Geld als eine korrekte Umsetzung kosten würde!
[Dieser leicht gekürzte Artikel erschien zuerst als NABU-Blogbeitrag - wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung!]
Weiterlesen bei der EU-Kommission: Bericht zur Umsetzung von EU-Umweltrecht in den 27 EU-Staaten veröffentlicht
Über den Autor
Raphael Weyland ist Rechtsanwalt und leitet das NABU-Büro in Brüssel. Sein Schwerpunkt ist europäisches Umwelt- und Naturschutzrecht und dessen Vollzug.