Neue Gentechnik: Deregulierung und Bruch mit dem Vorsorgeprinzip

In der Nacht zum 4. Dezember haben Unterhändler*innen von Europäischem Parlament, Rat und Kommission eine weitreichende Deregulierung für neue genomische Techniken (NGT) vereinbart, die Kennzeichnung, Rückverfolgbarkeit und Risikoprüfung für das Gros künftiger NGT-Pflanzen abschafft. Verbraucher-, Bauern-, Umwelt-, Landwirtschafts- und Einzelhandelsverbände schlagen Alarm.
Eine Einordnung von Katharina Schuster, DNR
Bei dem in der Nacht zum 4. Dezember ausgehandelten Beschluss zur Verordnung über Pflanzen aus neuen genomischen Techniken handelt es sich um nichts geringeres als einen Paradigmenwechsel: Pflanzen aus neuen genomischen Techniken (NGT) – insbesondere mittels CRISPR/Cas9 – sollen künftig in weiten Teilen wie konventionelle Sorten behandelt werden. Der erzielte Kompromiss folgt damit in allen entscheidenden Punkten der Deregulierungslinie von Rat und Kommission: Sogenannte NGT-1-Pflanzen sollen ohne Risikoprüfung, ohne Kennzeichnung und ohne Rückverfolgbarkeit in den Verkehr gebracht werden können.
NGT-1: Gentechnisch verändert, regulatorisch entkernt
NGT-1-Pflanzen sind laut EU-Definition jene per neuer Gentechnik veränderten Pflanzen, bei denen bis zu 20 gezielte genomische Editierungen (etwa Punktmutationen, kleine Deletionen oder Insertionen ohne Fremd-DNA) erlaubt wären, die durch neue genomische Verfahren hergestellt wurden.
Die Verordnung sieht vor, dass NGT-1-Pflanzen als „konventionell gleichwertig“ gelten, obwohl sie gentechnisch verändert wurden. Konkret bedeutet das:
- Keine Risikoprüfung: Nach der formalen Einstufung werden sie wie konventionelle Sorten behandelt und gelangen ohne Umwelt- oder Gesundheitsbewertung auf den Markt.
- Keine Kennzeichnung von Pflanzen, Lebensmitteln oder Zwischenprodukten. Nur Saatgut wird gekennzeichnet.
- Keine Rückverfolgbarkeit und kein Monitoring entlang der Wertschöpfungskette.
Nationale Behörden müssen lediglich prüfen, ob eine gentechnisch veränderte Pflanze in Kategorie 1 fällt. Da lediglich einzelne, besonders markante Eigenschaften ausgeschlossen sind, fällt der überwiegende Teil gentechnischer Veränderungen – egal wie weitgehend – unter NGT-1. Einer Studie des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) zufolge wären davon 95 Prozent aller neuen GV-Pflanzen betroffen. Automatisch in Kategorie 2 Pflanzen mit gezüchteter Herbizidtoleranz und Produktion eines bekannten Insektizids. Für Pflanzen dieser Kategorie gelten weiterhin die Regeln des Gentechnikrechts, das heißt Zulassungspflicht, Kennzeichnung und Monitoring bleiben bestehen und Mitgliedstaaten dürfen den Anbau verbieten. Koexistenzmaßnahmen sind möglich, aber freiwillig.
BUND, Bioland und DNR: Unnötige Risiken, „trojanisches Pferd“ und Angriff auf Umwelt- und Verbraucherschutz
Befürworter der schnellen Zulassung argumentieren, NGT ermögliche klimaresiliente, ertragreiche und pestizidärmere Sorten in Rekordzeit und sichere damit Europas Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Ländern mit bereits gelockerten Regeln. Sie behaupten auch, die Veränderungen seien naturnah und daher keiner umfassenden Risikoprüfung oder Kennzeichnungspflicht bedürftig. „Ohne Risikobewertung wissen wir überhaupt nicht, ob die hochtrabenden Heilsversprechen der Neuen Gentechnik überhaupt jemals eintreffen werden“, kritisiert hingegen Bioland. Der Verband spricht von einem „trojanischen Pferd“, unter dessen Deckmantel sich „Risiken in unsere Felder“ einschleichen.
Auch der BUND warnt, dass die EU „die Umwelt sehenden Auges unnötigen Risiken aussetzt, indem die Risikoprüfung gestrichen wird“. Zudem widerspreche der Wegfall der Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel dem erklärten Willen der großen Mehrheit der Verbraucher*innen in Europa.
Für den Deutschen Naturschutzring (DNR) ignoriert die Einigung das europäische Vorsorgeprinzip und „sägt damit an einem zentralen Pfeiler des europäischen Umweltschutzes", kommentierte DNR-Geschäftsführer Florian Schöne. Die Ökosysteme und ihre Tier- und Pflanzenwelt würden somit bislang unvorhersehbaren Risiken ausgesetzt. Wie auch andere Verbände fordert der DNR die Bundesregierung und das EU-Parlament dazu auf die Trilog-Einigung abzulehnen: „Wir fordern die Bundesregierung und das EU-Parlament auf, der Trilog-Einigung nicht zuzustimmen. Die Bundesregierung muss sicherstellen, dass grundlegende Schutzmechanismen für die Natur und die Verbraucher*innen gewahrt bleiben.“, forderte Schöne.
Kein Patentverbot: „Risiko einer weiteren Konzentration des Saatgutmarkts“
Die ursprüngliche Forderung des Parlaments nach einem strikten Patentverbot auf NGT-Pflanzen und -Verfahren wurde aufgegeben. Die Kommission hatte bereits zu Beginn signalisiert, Patente nicht verhandeln zu wollen, da sie nicht Teil des Gentechnikrechts, sondern der EU-Biotechnologierichtlinie (98/44/EG) seien. Damit werden NGT-1-Pflanzen nun regulatorisch wie konventionelle Züchtungen behandelt, gelten aber weiterhin als technische Erfindungen, die unter das Patentrecht fallen. Statt eines Verbots einigte man sich lediglich auf eine Pflicht zur Offenlegung bestehender oder anhängiger Patente bei NGT-1-Anmeldungen und deren Veröffentlichung in einer öffentlichen Datenbank – ohne jede Einschränkung dessen, was tatsächlich patentiert werden darf. Ergänzend soll eine Expertengruppe eingerichtet, nach einem Jahr eine Studie vorgelegt und gegebenenfalls ein Gesetzesvorschlag nachgereicht werden.
Das Fehlen eines klaren Patentverbots wird von Umwelt- und Landwirtschaftsverbänden als direkter Angriff auf Züchtungsfreiheit, bäuerliche Unabhängigkeit und europäische Ernährungssouveränität bewertet. Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) kritisiert, der Beschluss gleiche einem „Kniefall vor den multinationalen Gentechnik-Konzernen, die mit Patenten die kleinen und mittelständische vielfältige Züchterlandschaft Europas verdrängen“ wollen.
Demeter warnt vor „einer massiven Konzentration von Marktmacht bei wenigen Konzernen“ und sieht „jahrzehntelange Züchtungsarbeit, die unsere Landwirtschaft zukunftsfähig und tatsächlich nachhaltiger machen soll“ bedroht.
Der BÖLW spricht von einer „roten Linie“, die überschritten worden sei, weil „die Verengung der Freiheit der Pflanzenzüchterinnen und -züchter durch noch mehr und noch weitreichendere Patente“ nicht nur Züchter einschränke, sondern ein „Risiko einer weiteren Konzentration des Saatgutmarkts“ darstelle.
Bioland warnt vor dem „Deckmantel des Fortschritts“, unter dem sich „Abhängigkeit und Konzerninteressen“ einschleichen, und davor, dass Konzerne „die volle Kontrolle über Saatgut und Patente und damit über die Ernährungssouveränität Europas“ übernehmen könnten. Auch der Deutsche Bauernverband warnt vor Patentrisiken: „Weniger Wettbewerb unter den Züchtern, steigende Saatgutpreise und ein Rückgang der Sortenvielfalt. Langfristig droht eine Konzentration auf wenige ertragreiche Hauptkulturen, während regional bedeutsame Pflanzenarten vom Markt verschwinden.“
Keine Regelungen zu Haftung und Koexistenz
Ein weiterer blinder Fleck der Einigung betrifft Haftung und Koexistenz: Es fehlt an jeglichen klaren Regelungen dazu, wer verantwortlich ist, wenn gentechnische Verunreinigungen auf Feldern, in Futtermitteln oder in Lebensmitteln auftreten. De facto bleiben die Risiken damit bei den Landwirt*innen hängen, die gentechnikfrei wirtschaften. Gleichzeitig fehlen verpflichtende Koexistenzmaßnahmen, um gentechnikfreie und ökologische Produktion zu schützen; selbst für NGT-2 sind sie nur freiwillig vorgesehen. Für Biobetriebe und gentechnikfrei wirtschaftende konventionelle Betriebe bedeutet das eine gefährliche Mischung: Sie sollen die Folgen unkontrollierter Auskreuzung tragen, ohne dass ihnen das Gesetz Instrumente zur Absicherung ihrer Produktion an die Hand gibt. Die AbL warnt ausdrücklich davor, dass niemand sagen kann, „wer denn in Zukunft bei Verunreinigungen die Verantwortung übernimmt und Schadensersatz zahlt“. Ohne klare Regeln drohen gentechnikfrei wirtschaftenden Betrieben existenzielle Risiken – während die Unternehmen, die NGT-Saatgut in Verkehr bringen, weitgehend aus der Verantwortung entlassen werden. Die AbL fordert deshalb „Rechtssicherheit für die gentechnikfreie Wirtschaft“ und kritisiert, dass der vorliegende Gesetzesvorschlag „allein den Konzerninteressen“ dient.
EVP brauchte Rechtsaußen, um EP-Mandat auszuhebeln
Obwohl das Parlament ursprünglich eine Position mit Forderungen nach Kennzeichnung, Rückverfolgbarkeit und einem Patentverbot verabschiedet hatte, fanden diese im Verhandlungsergebnis keinen Eingang. Das lag auch daran, dass die Parlamentsposition zur NGT-Verordnung im Februar 2024 – also noch vor der Europawahl und damit unter anderen Mehrheitsverhältnissen mit stärkeren Grünen, Sozialdemokraten und einem ökologischeren Renew-Flügel – beschlossen wurde. Nach der Wahl 2024 verschoben sich die Kräfte deutlich nach rechts. Das alte Mandat blieb jedoch formal bestehen und bildete die Grundlage für die Trilogverhandlungen 2025. Damit verhandelte die neue, konservativ dominierte Parlamentsmehrheit auf Basis eines Mandats, das sie politisch nicht mehr unterstützte – und dessen Kernforderungen sie im Trilog faktisch fallenließ. Die EVP konnte ihre Deregulierungsagenda dennoch nur durchsetzen, weil Rechtsaußen-Fraktionen ihr die entscheidenden Stimmen dazu lieferten.
Massiver Protest aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft prallte an den Verhandler*innen ab
Schon in den Wochen und Monaten vor dem letzten Trilog schlugen Verbraucher-, Bauern-, Umwelt-, Landwirtschafts- und Einzelhandelsverbände Alarm.
BUND, AbL, Save Our Seeds und zahlreiche weitere Verbände organisierten Aktionen, darunter einem Protest vor dem Bundeskanzleramt und die Übergabe von 130.000 Unterschriften an das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, mit denen Bürgerinnen und Bürger eine Kennzeichnungspflicht und wirksame Schutzregeln einforderten.
In einem Brandbrief forderten REWE, dm, Alnatura, dennree und Rapunzel die EVP-Abgeordneten Weber, Polfjärd und Köhler auf, dem Trilog-Ergebnis nur dann zuzustimmen, „wenn darin die Wahlfreiheit gesichert bleibt – mit vollständiger Kennzeichnungspflicht, Rückverfolgbarkeit und Koexistenzmaßnahmen für NGT“. Für Verbraucher*innen steht mit der Deregulierung ein fundamentaler Wert auf dem Spiel: das Recht zu wissen, was man isst. Wer künftig weiterhin gentechnikfreie Produkte konsumieren möchte, hat de facto keine Möglichkeit mehr, dies zu prüfen.
Auch ein von BUND, DNR, NABU und Greenpeace unterzeichneter offener Brief warnte vor einer „umfassenden Deregulierung gegen den erklärten Willen der großen Mehrheit der Verbraucherinnen und Verbraucher“. Die Verbände forderten die Bundesregierung auf, sich im Sinne des Vorsorgeprinzips und für den Erhalt der ökologischen und konventionellen gentechnikfreien Züchtung und Landwirtschaft“ einzusetzen.
Die große Bandbreite der beteiligten Verbände spiegelt wider, wie tief der Bruch ist, der sich hier vollzieht – und wie weitreichend die Folgen für Verbraucher*innen, Landwirt*innen, für Ökosysteme und den europäischen Umweltschutz tatsächlich sind.
Denn neben den unmittelbaren Folgen für Verbraucherrechte, Landwirtschaft, Züchtungsbetriebe und Ökosysteme markiert diese Deregulierung einen massiven Angriff auf das Vorsorgeprinzip – jenes Fundament, auf dem der gesamte europäische Umweltschutz aufgebaut ist. Wenn Risiken nicht mehr vorbeugend bewertet werden, erhalten Industrieinteressen systematisch Vorrang vor Umwelt- und Gesundheitsschutz. Mit der Folge, dass gefährliche Stoffe schneller zugelassen, Grenzwerte aufgeweicht, Schutzstandards Schritt für Schritt abgebaut werden. So wird bereits der Weg geebnet für eine schleichende Demontage von REACH, der Pestizidverordnung und anderen zentralen Umweltregelwerken.
Rat der EU: New genomic techniques: Council and Parliament strike deal to boost the competitiveness and sustainability of our food systems (Pressemitteilung vom 04.12.2025)
Bioland: Beschluss zur Neuen Gentechnik ist ein trojanisches Pferd (Pressemitteilung vom 04.12.2025)
BÖLW: Gentechnik: Bio bleibt sicher (Pressemitteilung vom 04.12.2025)
AbL: Gentechnik-Verunreinigungsgesetz stoppen – jetzt kommt es auf das Europaparlament und den EU-Ministerrat an (Pressemitteilung vom 04.12.2025)
Demeter: Konzerninteressen setzen sich gegen Verbraucher*innen und Landwirtschaft durch (Pressemitteilung vom 04.12.2025)
BUND: Drohende Deregulierung neuer Gentechnik: EU riskiert Umweltschäden und verletzt Verbraucher*innenrechte (Pressemitteilung vom 04.12.2025)
Martin Häusling (MdEP): Übersicht über die inhaltlichen Ergebnisse des politischen Trilogs
DNR: Trilog zu Neuer Gentechnik: EU kippt zentrale Schutzregeln (Pressemitteilung vom 04.12.2025)
table.media: NGT: Worauf sich Rat und Parlament geeinigt haben (Paywall)
Informationsdienst Gentechnik: Trilog zur neuen Gentechnik: Einigung bis Dezember?


