Strategischer Dialog über Chemikalien: Wandel oder Deregulation?

Welche Maßnahmen braucht es, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Chemiebranche zu fördern und gleichzeitig Nachhaltigkeit und Sicherheit zu gewährleisten? Diese Fragen soll der jüngste strategische Dialog der EU-Kommission klären helfen. Am 13. Mai fand das erste Treffen des strategischen Dialogs über die Zukunft der chemischen Industrie in Europa statt.
Hochrangig bestückt ging die EU-Kommission in das Treffen mit 15 Industrievertreter*innen: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte den Vorsitz, Exekutiv-Vizepräsident Stéphane Séjourné und Umweltkommissarin Jessika Roswall nahmen ebenfalls teil. Laut von der Leyen leistet die Chemieindustrie „entscheidende Beiträge zu Schlüsselsektoren wie Verteidigung, Gesundheitswesen oder Energie“ und spielt im Alltag der EU-Bürger*innen eine wichtige Rolle. Die EU-Kommissionspräsidentin hob die Rolle des Clean Industrial Deals hervor, der die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie stärken und dekarbonisieren soll. Die EU-Kommission will bis zum Sommer einen Aktionsplan für den chemischen Sektor sowie einen sektorspezifischen Omnibus zur Vereinfachung vorlegen. Bis Ende des Jahres soll ein Gesetzespaket für die chemische Industrie geschnürt sein, kündigte von der Leyen an.
Vertreterinnen und Vertreter des Chemiesektors pochten auf eine rasche Umsetzung des Kompasses für Wettbewerbsfähigkeit und des Aktionsplans für erschwingliche Energie. Hohe Energiekosten, unlautere Handelspraktiken, die Auswirkungen der US-Zölle und die ausstehende Unterstützung des Sektors beim digitalen und ökologischen Wandel sowie die Komplexität des Rechtsrahmens stellen die Industrie vor große Herausforderungen. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) forderte eine Zurückstellung der geplanten REACH-Reform.
Drei Organisationen der Zivilgesellschaft - das Europäische Umweltbüro (EEB), der Europäische Gewerkschaftsbund (ETUC) und der Europäische Verbraucherverband (BEUC) - waren ebenfalls Teil des strategischen Dialogs.
„Gestaltung der Zukunft der europäischen Chemieindustrie für die Menschen und den Planeten“
An dem Treffen mit unter anderem BASF, L'Oréal, Dow Europe und GF Biochemicals nahm als einziger Umweltverband das Europäische Umweltbüro (EEB) teil. „Es braucht einen echten Wandel statt Deregulierung“, forderte das EEB. Die Europäische Kommission müsse den Übergang zu einem kohlenstoffneutralen, kreislauforientierten, schadstofffreien und giftfreien Chemiesektor dringend beschleunigen. Die Transformation benötige ökologische und soziale Auflagen und einen klaren Fahrplan für den Übergang bis 2040.
Bei dem Treffen habe sich ein „deutliches Spannungsverhältnis“ zwischen den Forderungen der Industrie nach öffentlichen Subventionen, billigerer Energie und dem Abbau von Vorschriften und dem anhaltenden Engagement der Kommission für den Europäischen Green Deal gezeigt, so das EEB. Der Generalsekretär der Organisation Patrick ten Brink mahnte: „Es ist an der Zeit, dass wir nicht mehr Jahrzehnte brauchen, um zu regulieren, was in Wochen auf den Markt kommt.“ Die Stärkung der EU-Chemikalienverordnung REACH, das Verbot schädlicher Stoffe und Investitionen in Transparenz, Rückverfolgbarkeit und sicherere Alternativen würden ein gesünderes, zirkuläres, widerstandsfähigeres und wirtschaftlich zukunftsfähiges Europa schaffen. Nicht zuletzt könnten mit einer verantwortungsvollen Politik künftige Skandale wie die massive Verschmutzung von Wasser und Böden in Europa durch per- und polyfluorierte Alkylverbindungen (PFAS) verhindert werden.
Hoher Energieverbrauch und etliche Skandale
Die chemische Industrie trägt laut EEB „in erheblichem Maße zum Klimawandel und zur gesundheitsschädlichen Verschmutzung durch Chemikalien bei“ und bleibe dennoch einer der größten blinden Flecken in der Klimapolitik. Weltweit stoße der Sektor jedes Jahr schätzungsweise 3,3 Milliarden Tonnen CO₂ aus - dreimal mehr als der Luftverkehr - und sei der größte industrielle Energieverbraucher.
Die Europäische Union stehe an einem entscheidenden Punkt bei der Gestaltung ihrer Chemikalienpolitik. Die Europäische Kommission hat versprochen, ein Paket für die chemische Industrie vorzulegen, das eine Vereinfachung von REACH und eine Klärung von PFAS vorsieht. Das EEB begrüßte diese Zusage, mahnte aber, dass die Richtung zukunftsweisend und transformativ sein müsse - und nicht eine Rückkehr zu veralteten Modellen. Tatiana Santos, EEB-Leiterin für Chemikalienpolitik, sagte: „Das Versagen Europas bei der Regulierung von PFAS ist uns ins Blut geschrieben. Wir können nicht zulassen, dass dieses Erbe fortbesteht. Vereinfachung muss schnellere Entscheidungen bedeuten - nicht schwächeren Schutz.“
Intelligente und verstärkte Regulierung und nicht Deregulierung sei der wahre Motor für Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und öffentliches Vertrauen. REACH sei langsam und ineffektiv, die Nichteinhaltung der Informationspflichten durch die chemische Industrie nach wie vor alarmierend hoch. Entgegen den Behauptungen der Industrie, REACH sei zu aufwändig, habe sich der Chemiesektor unter der Regulierung gut entwickelt. Seit der Verabschiedung von REACH seien die Einnahmen des Sektors auf einen Rekordwert von 872 Milliarden Euro im Jahr 2022 gestiegen, wobei die EU weiterhin der weltweit größte Exporteur von Chemikalien sei und im zweiten Quartal 2024 einen Handelsüberschuss von 59,3 Milliarden Euro aufweise. Laut CEFIC, dem Interessenverband der chemischen Industrie in der EU, machten alle Umweltvorschriften zusammen nur drei Prozent der Kosten für die Wettbewerbsfähigkeit aus. CEFIC hebe hervor, dass Energie und fossile Rohstoffe mit einem Anteil von 30 bis 40 Prozent die wahren Hindernisse für die Wettbewerbsfähigkeit des Chemiesektors darstellen.
Nächste Schritte
Die lang erwartete REACH-Überarbeitung kommt in eine entscheidende Phase, die Vorbereitungen des angekündigten Chemikalienpaketes der EU-Kommission laufen. Die nächsten Wochen und Monate dürften richtungsentscheidend sein, ob die EU im weltweiten Vergleich in Sachen sichere und saubere Innovationen eine Führungsrolle einnimmt oder lieber in enorm steigende Umwelt-, Gesundheits- und Wirtschaftskosten investieren will. Noch vor dem Sommer soll ein weiterer Termin für den strategischen Dialog folgen. [jg]
EU-Kommission DE: Strategischer Dialog mit der Chemischen Industrie: Ergebnisse des ersten Treffens und Liste teilnehmender Organisationen und Unternehmen