Wettbewerbsfähigkeit in Brüssel und Berlin – auf wessen Kosten?

„Competitiveness“ lautet das neue Mantra der EU. Der vor einem Jahr veröffentlichte Draghi-Bericht verdeutlichte, was das Wachstum in Europa hemmt und wie Hindernisse überwunden werden können - doch viele Umweltorganisationen sehen zentrale Risiken. Nach einer Konferenz zur Wettbewerbsfähigkeit in Brüssel reiste Ursula von der Leyen nach Berlin zum Zukunftskongress der vier großen deutschen Handelsverbände. Unterm Strich: Umwelt- und Klimaschutz finden kaum statt.
Mitte September hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf der Konferenz „Der Draghi-Bericht: ein Jahr später“ über die Fortschritte der Kommission bei der Umsetzung der Empfehlungen für mehr europäische Wettbewerbsfähigkeit gesprochen. Unter anderem verwies sie auf den im Januar veröffentlichten Wettbewerbs-Kompass (EU-News 30.01.2025) und weitere Initiativen sowie künftige Vorhaben ( Timeline).
Der ebenfalls anwesende ehemalige italienische Regierungs- und EZB-Chef Mario Draghi war weniger optimistisch und zeichnete laut dpa-Europaticker ein eher düsteres Zukunftsbild. Das Wachstumsmodell stehe in Frage und die Finanzierung dringend erforderlicher Investitionen sei nach wie vor unklar. Außerdem seien die Energiepreise zu hoch und es gebe Nachholbedarf bei künstlicher Intelligenz, Mikrochips sowie beim Automobilsektor und dem Markt für E-Mobilität. So sänken die CO₂-Emissionen im Verkehr kaum.
Schon nach der Veröffentlichung des Draghi-Berichtes hatten Umweltverbände gewarnt (EU-News 11.09.2024), dass Wettbewerbsfähigkeit angesichts planetarer Krisen kein Selbstzweck sei. So dürften Innovationen nicht auf Kosten von Mensch und Natur gehen, die vorgeschlagene „Vereinfachungs“-Agenda sei äußerst bedenklich. Dekarbonisierung sei zwar in der Tat entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der EU, aber Draghis „technologieneutraler“ Ansatz sei „gefährlich“. Kernenergie und Kohlenstoffspeicherung CCS beispielsweise verlangsamten den benötigten grünen Übergang nur. Derzeit dringen derlei Bedenken noch nicht in das politische Handeln durch.
Auf der Brüsseler Konferenz betonte von der Leyen, dass die Kommission seit ihrem Amtsantritt vor neun Monaten ihre Versprechen bereits in Aktionen umgesetzt hat. Neben dem von Umweltverbänden kritisierten Wettbewerbskompass – aus Sicht der Verbände könnten Deregulierung, vereinfachte Regeln und geplante Maßnahmen wichtige Umwelt- und Sozialstandards aushöhlen und langfristig den Fortschritt beim Klimaschutz gefährden – nannte die EU-Kommissionspräsidentin weitere Initiative. Dazu gehörten der Deal für eine saubere Industrie (EU-News 06.03.2025), der Aktionsplan für erschwingliche Energie sowie „maßgeschneiderte Aktionspläne für die Automobilindustrie, Stahl und Chemie“. Darüber hinaus fallen für die EU-Kommissionspräsidentin auch die „größte Steigerung der Verteidigungsinvestitionen in unserer Geschichte“, neue Vorschläge für den Binnenmarkt, Start-up/Scale-up-Fonds sowie die sechs Vereinfachungspakete (sogenannte Omnibusgesetze) unter die Überschrift Wettbewerbsfähigkeit.
Deutsche Handelsverbände fordern Beschleunigung und Vereinfachung von Umweltrecht
In ihrer Rede am 18. September vor vier großen deutschen Handelsverbänden in Berlin ging von der Leyen wie schon in Brüssel auf fünf Themenbereiche ein: Bürokratieabbau, bezahlbare Energie, Binnenmarkt, Handel sowie Entlastung des Mittelstandes. „Der Kampf um Europas Wettbewerbsfähigkeit ist entscheidend - für unsere Betriebe, unsere Arbeitsplätze und unseren Wohlstand. Aber er ist genauso entscheidend für Europas Zukunft”, so die Kommissionspräsidentin. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) und der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) hatten vorher eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht. Weder Umwelt- noch Naturschutz finden darin Erwähnung, wohl aber die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie „ambitionierte Vereinfachungen im Umweltrecht“, die dringend „notwendig“ seien.
BDA, BDI DIHK und ZDH fordern außerdem einen „schnellen Netzausbau, Technologieoffenheit und die faire Anrechnung internationaler Klimaschutzbeiträge“. Die ambitionierten EU-Klimaziele erforderten „Investitionen in historischem Ausmaß“, weshalb der Clean Industrial Deal Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit „untrennbar verbinden“ sowie garantieren müsse, dass „Energie auch bei steigendem Bedarf bezahlbar und verlässlich verfügbar“ bleibe. Auch das EU-Emissionshandelssystem müsse „rasch zukunftsfest“ gemacht werden, einschließlich eines zuverlässigen Schutzes vor Carbon Leakage, so die Handelsverbände.
Für EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen gehört zur Frage bezahlbarer Energien die Unabhängigkeit vom Weltmarkt. Deshalb propagiert sie heimische Energie, also in Europa produzierte erneuerbare Energien und auch Nuklearenergie. Europa habe „sichtbare Fortschritte“ gemacht, 72 Prozent des erzeugten Stroms in der EU stammten aus „low-carbon“ Energie, in Deutschland seien es 63 Prozent. Dies habe Europa mehr als 60 Milliarden Euro an fossilen Brennstoffimporten gespart. Nun müsse noch der „kluge Ausbau der europäischen Netzinfrastruktur“ folgen, aber auch die europäischen Unternehmen seien im „Rennen“ um die Vorreiterrolle im Markt für Cleantech-Produkte gefragt. „Wir müssen unsere eigenen Möglichkeiten besser nutzen, um Lieferketten stabil zu halten. Und, um unabhängiger zu werden”, so von der Leyen.
Dass Atomenergie eher eine nachhaltige Energiewende-Bremse ist, lässt sich im aktuellen Gastbeitrag vom BUND nachlesen. [jg]
EU-Kommission/Brüssel:
- Konferenz zum Draghi-Bericht: Rede von Präsidentin von der Leyen
- Rede der Kommissionspräsidentin in vollem Wortlaut
- Website der Konferenz
dpa-Europaticker: Draghi zeichnet düstere Zukunft für EU-Wirtschaft
EU-Kommission/Deutschland: