Wettbewerbsgipfel: Industriepolitik verliert Dekarbonisierungsfokus

Am 30. September tagte der Wettbewerbsrat, gefolgt vom Wettbewerbsgipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am 1. Oktober. Im Mittelpunkt beider Treffen standen die Vereinfachung von EU-Regelungen und der neue Wettbewerbsfonds, mit dem die europäische Industrie gestärkt werden soll. Ein zuvor veröffentlichtes deutsch-französisch-italienisches Non-Paper zum geplanten Industrial Accelerator Act verdeutlicht, wohin sich Europas Industriepolitik entwickeln könnte. Die Dekarbonisierung der europäischen Industrie spielte dabei nur noch eine Nebenrolle.
Die EU sucht nach neuen Wegen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Beim Treffen des Wettbewerbsrats und dem Wettbewerbsgipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am 30. September und 1. Oktober standen Maßnahmen zur Vereinfachung von Rechtsvorschriften im Mittelpunkt sowie die Öffnung des Wettbewerbsfonds für Sektoren, die ursprünglich nicht Teil des Dekarbonisierungsziels waren. Die Treffen deuten eine klare Prioritätenverschiebung in der europäischen Industriepolitik an: Der geplante Industrial Accelerator Act soll Europas Industrie fit für den globalen Wettbewerb machen – während Klimapolitik in den Hintergrund rückt.
Unter den Schlagworten „Vereinfachung, Umsetzung und Durchsetzung“ präsentierte Binnenmarktkommissar Stéphane Séjourné seinen inzwischen veröffentlichten informellen Fortschrittsbericht. Die Mitgliedstaaten begrüßten die Initiative für weniger Bürokratie und „bessere Gesetzgebung“, die Teil eines umfassenderen Reformpakets ist und mit den sechs angekündigten „Omnibus“-Gesetzen der Kommission umgesetzt werden soll. Diese standen auch am darauffolgenden Tag beim Wettbewerbsgipfel der Staats- und Regierungschefs auf der Agenda. In ihrer Ansprache betonte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass Vereinfachung und Deregulierung nicht nur auf EU-, sondern auch auf nationaler Ebene nötig seien, um das wirtschaftliche Potenzial Europas zu „entfesseln“. Sie appellierte an Rat und Parlament, die laufenden Omnibus-Vorhaben zügig abzuschließen. Laut von der Leyen sollen diese Maßnahmen Bürokratiekosten um rund 8 Milliarden Euro senken.
Im Dezember soll Kommissar Dombrovskis einen Gesamtbericht zur Umsetzung und Vereinfachung vorlegen. Mehrere Staaten betonten, EU-Gesetze müssten künftig so gestaltet werden, dass Omnibus-Verordnungen überflüssig werden. Als zentrales Instrument wurde eine frühzeitige Einbindung von Stakeholdern genannt. Deutschland unterstützte das Ziel, mahnte jedoch an, delegierte Rechtsakte zu reduzieren und stattdessen mehr in der Primärgesetzgebung zu regeln. Berlin forderte zudem, dass die Kommission künftig zu Jahresbeginn eine Liste aller geplanten Delegierten Rechtsakte veröffentlicht.
400 Milliarden Euro für die europäische Wettbewerbsfähigkeit
Ein weiterer Schwerpunkt lag auf dem vorgestellten Wettbewerbsfond, der laut Kommission ein Volumen von 400 Milliarden Euro haben soll und im kommenden Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) eine zentrale Rolle spielt. Der Fonds soll Wettbewerbsfähigkeit und Innovation stärken, indem er öffentliches und privates Kapital bündelt – ergänzt durch eine Verdopplung des Budgets von Horizon Europe. Die Mitgliedstaaten begrüßten den Vorschlag grundsätzlich, betonten aber, dass Unternehmen direkt profitieren müssen. Deutschland forderte, die Mitgliedstaaten stärker in die Governance einzubinden, und sprach sich – unterstützt von Frankreich, den Niederlanden, Finnland und Schweden – dafür aus, dass das Exzellenzprinzip das entscheidende Kriterium bei der Projektvergabe bleibt. Länder wie Polen, Tschechien, Spanien, Malta, Griechenland und die Slowakei pochten dagegen auf geografische Ausgewogenheit.
Von der Leyen hatte in diesem Zusammenhang auch auf die strukturellen Schwächen Europas hingewiesen: zu hohe Energiekosten und ein fragmentierter Finanzmarkt. Die Kommission will mit einem Affordable Energy Action Plan den Ausbau erneuerbarer und nuklearer Energien beschleunigen und mit der neuen Savings and Investment Union mehr privates Kapital in die europäische Wirtschaft lenken. Einigkeit bestand unter den Mitgliedstaaten, dass der Erfolg des Fonds von der Mobilisierung privaten Kapitals abhängt – die Verhandlungen darüber stehen jedoch noch am Anfang.
Kommission verschiebt den Fokus vom Klimaschutz zur Wettbewerbsförderung.
Bereits in ihrer State of the Union-Rede kündigte Ursula von der Leyen keinen Industrial Decarbonisation Accelerator Act mehr an, sondern den Industrial Accelerator Act. Die Dekarbonisierung ist aus dem Titel gestrichen, und das ist mehr als Semantik: Laut Kommission soll das neue Gesetz nicht mehr nur energieintensive Branchen beim grünen Umbau unterstützen, sondern breiter aufgestellt sein und auch digitale Schlüsseltechnologien wie künstliche Intelligenz und Cloud-Computing fördern. Damit verliert der ursprünglich im Rahmen des Clean Industrial Deal angekündigte Vorschlag seinen klaren Dekarbonisierungsfokus, der unter anderem schnellere Genehmigungsverfahren für Klimaprojekte vorsah.
Umweltorganisationen wie der WWF zeigen sich überrascht und besorgt. Camille Maury vom WWF warnte gegenüber ENDS Europe, dass die Kommission ihr Versprechen aus dem Clean Industrial Deal breche: Ohne verbindliche Verpflichtungen zur Emissionsminderung drohe das Gesetz zu einem bloßen Industrie-Entlastungspaket zu verkommen.
Deutschland, Frank und Italien fordern Entlastung energieintensiver Branchen
Während des Gipfels wurde außerdem ein gemeinsames Non-Paper von Deutschland, Frankreich und Italien vorgestellt. Unter dem (nicht mehr aktuellen) Titel Industrial Decarbonisation Accelerator Act (IDAA) drängen die drei größten EU-Volkswirtschaften auf eine deutlich industriefreundlichere Ausrichtung der europäischen Industriepolitik.
Der geplante IDAA solle nicht nur die Dekarbonisierung, sondern vor allem die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Branchen stärken, heißt es in dem Papier. Im Mittelpunkt steht ihre Entlastung und Entbürokratisierung– nicht deren Transformation. Unter anderem fordern sie, das Emissionshandelssystem (ETS) so anzupassen, dass Preisschwankungen besser abgefedert werden und staatliche Entlastungen für hohe Energiekosten auch über 2030 hinaus möglich bleiben. Zudem wollen sie den Beihilferahmen beibehalten, damit nationale Regierungen schnell und unkompliziert Industrieprojekte fördern können – ein Punkt, der vor allem bei kleineren Mitgliedstaaten auf Kritik stößt.
Ein weiterer zentraler Vorschlag ist die Einführung einer EU-Präferenz bei öffentlichen Aufträgen – ein „Buy European“-Ansatz, der die Nachfrage nach europäischen, klimafreundlichen Grundstoffen sichern und Importe aus Ländern mit schwächeren Klimastandards benachteiligen soll. In Sachen Energiepreise bleibt das Papier oberflächlich: Der Ausbau der Erneuerbaren wird nicht adressiert, während die Verlängerung der Strompreiskompensation eine klimaschädliche Subvention fortschreibt und das Verursacherprinzip weiter aushöhlt.
Christina Stoldt (DNR): Wettbewerbsfähigkeit nicht gegen ökologische Verantwortung auspielen
Als inoffizielles Diskussionspapier hat es keine formelle Bindung, dient aber dazu, die politische Richtung vorzugeben. Es ist rein strategischer Vorstoß, der darauf abzielt, die kommenden Kommissionsvorschläge inhaltlich zu beeinflussen – ein deutliches Signal, wohin die drei Schwergewichte der EU den Kurs lenken wollen.
Christina Stoldt, DNR-Referentin für deutsche und europäische Industriepolitik, ordnet den Vorstoß ein: „Das Non-Paper der drei Mitgliedstaaten zeigt den Willen, Europas industrielle Stärke mit dem Ziel der Klimaneutralität zu verbinden – ein notwendiger Schritt für die Zukunftsfähigkeit des Kontinents.“ Es komme jetzt aber darauf an, dass Wettbewerbsfähigkeit nicht gegen ökologische Verantwortung ausgespielt werde. Nur wenn die Vergabe öffentlicher Mittel und politische Instrumente konsequent auf Klima- und Sozialziele einzahle, „entsteht die resiliente, grüne Industrie, die wir in Europa möchten und brauchen“.
Laut Agenda der Kommission ist die Vorstellung des Industrial Accelerator Act für den 25. November vorgesehen. [ks]
Rat der Europäischen Union: Non-Paper von Deutschland, Frankreich und Italien zum Industrial Decarbonisation Accelerator Act
Table.Media Europe: Energieintensive Industrien: Deutschland, Frankreich und Italien fordern „Buy European“
ENDS Europe: Commission to shift focus of key industry bill away from decarbonisation
Europäische Kommission: Rede von Präsidentin von der Leyen beim Competitiveness Summit in Kopenhagen