„Buchhalterische Tricks“: Umweltverbände kritisieren EU-Klimaziel 2040

Die EU-Kommission will die Treibhausgasemissionen bis 2040 um 90 Prozent senken – ein Ziel, das NGOs als wichtiges Signal begrüßen. Scharfe Kritik gibt es an geplanten Schlupflöchern wie internationalen CO₂-Kompensationen und der Anrechnung technischer Entnahmen. Umweltverbände fordern verbindliche Zwischenziele und echte Emissionsminderungen statt buchhalterischer Tricks.
Am 2. Juli hat die Europäische Kommission ihr lang erwartetes Klimaziel 2040 vorgestellt. Demnach sollen die Netto-Treibhausgasemissionen der EU bis 2040 um 90 Prozent gegenüber 1990 reduziert werden. Von diesen 90 Prozentpunkten müssen 87 Punkte durch Emissionssenkungen innerhalb der EU erreicht werden; bis zu 3 Prozentpunkte dürfen durch Klimaschutzprojekte in Drittstaaten ausgeglichen werden. Dieses neue Zwischenziel liegt auf dem Pfad zur im EU-Klimagesetz festgeschriebenen Klimaneutralität bis 2050 und soll sicherstellen, dass die EU nach 2030 auf Kurs bleibt. Bereits bis 2030 gilt ein Etappenziel von mindestens –55 % Netto-Emissionen.
Die Kommission betont, dass ihr 2040-Ziel „pragmatisch und flexibel“ ausgestaltet sei, um wirtschaftliche und geopolitische Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Der Vorschlag nehme Rücksicht auf die aktuelle ökonomische, energiepolitische und sicherheitspolitische Lage und sei eng verzahnt mit der Industrie- und Energiepolitik der EU (z. B. EU Competitiveness Compass, Clean Industrial Deal, Affordable Energy Action Plan). Dadurch sollen Planungssicherheit für Investitionen geschaffen, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie gestärkt und neue zukunftssichere Arbeitsplätze gefördert werden. Zudem würden Europas Resilienz und strategische Autonomie im Energiesektor erhöht. Die Kommission veröffentlichte parallel eine Mitteilung zum Clean Industrial Deal, welche die ersten Umsetzungsschritte und weiteren Bedarf aufzeigt – die Umsetzung dieser Industrie- und Innovationsmaßnahmen gilt als entscheidend für das 2040-Ziel.
Klimaziel 2040: Ausgestaltung und Maßnahmen
Der Vorschlag der Kommission stützt sich auf wissenschaftliche Analysen (u. a. einen umfassenden Impact Assessment) und die Beratung durch den Klimabeirat (ESABCC). Letzterer hatte 2023 empfohlen, die EU solle bis 2040 90–95 Prozent weniger Netto-Emissionen verursachen – ohne auf auswärtige Kompensationen zurückzugreifen. Mit dem nun vorgeschlagenen Wert von 90 Prozent bewegt sich die Kommission also am unteren Ende der wissenschaftlichen Empfehlung. Sie kombiniert das Ziel jedoch mit neuen Flexibilitäts-Mechanismen, um die Zustimmung aller Mitgliedstaaten und politischen Lager zu sichern.
Konkret dürfte ab 2036 ein begrenzter Anteil der Emissionsminderung durch den Zukauf internationaler Emissionsgutschriften (nach Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens) erfolgen – bis zu drei Prozent der erforderlichen Reduktion (entsprechend ca. 150 Mio. t CO₂). Zudem will die EU-Kommission inländische „negative Emissionen“ (CO₂-Entnahmen) stärker anerkennen, z. B. durch technologische CO₂-Speicherung oder Carbon Farming in der Land- und Forstwirtschaft, also landbasierte Maßnahmen zur Förderung von Kohlenstoffbindung in Böden und Biomasse. Solche permanenten CO₂-Entnahmen könnten künftig im EU-Emissionshandel (EU ETS) angerechnet oder handelbar gemacht werden. Des Weiteren soll es mehr Flexibilität zwischen Sektorzielen („cross-sectoral flexibility“) geben: Wenn z. B. ein Land seine Ziele im Verkehrssektor nicht erfüllt, kann es Übererfüllungen im Energiesektor gegenrechnen. Laut Kommission dienen diese Maßnahmen dazu, das 2040-Ziel kosteneffizient und sozial fair zu erreichen, ohne Länder oder Sektoren zu überfordern. Kritiker*innen bezeichnen die Flexibilisierungen allerdings als Aufweichung der Klimaziele, da sie de facto erlauben, einen Teil des Klimaschutzes aufs Papier oder ins Ausland zu verlagern ohne ihre Emissionen real zu reduzieren. Wie der ESABCC in seinem Bericht vom Juni 2025 betont, würde das Ziel bei fortbestehenden Flexibilitäten nicht mehr den wissenschaftlichen Empfehlungen entsprechen.
„Flexibilitäten sind nichts als Schlupflöcher, um echte Maßnahmen zu verzögern“
Zahlreiche Umwelt- und Klimaverbände, darunter Greenpeace, WWF, das Europäische Umweltbüro, CAN Europe und der Deutsche Naturschutzring begrüßen das 90 Prozent-Ziel als Schritt in die richtige Richtung und als wichtiges Signal für Planungssicherheit, industriepolitische Weichenstellungen und internationale Klimaglaubwürdigkeit. DNR-Präsident Kai Niebert erklärte: „Nur wer klare Zielpfade vorgibt, schafft Investitionssicherheit und reduziert die Steuerungskosten im Detail“. Laut WWF könnte es „ein richtungsweisender Schritt“ sein, um Europas Führungsrolle bei der Umsetzung des Pariser Klimaabkommens zu untermauern. CAN Europe nannte den Vorschlag einen „überfälligen, pivotalen Schritt“.
Gleichzeitig hagelt es Kritik an den geplanten Flexibilitäten wie den geplanten Anrechnungsmöglichkeiten und wenig transparenten Rechenmechanismen. Denn hinter dem scheinbar ambitionierten 90 Prozent-Ziel verbergen sich eine Reihe von Schlupflöchern, die aus Sicht vieler Umweltverbände die tatsächliche Klimaschutzwirkung verwässern könnten.
Scharfe Kritik äußern die Organisationen an der geplanten Möglichkeit, bis zu drei Prozentpunkte des Ziels über internationale CO₂-Zertifikate zu erreichen. Das European Environmental Bureau (EEB) spricht von „buchhalterischen Tricks“; Greenpeace von „offshore carbon laundering“ – eine Anspielung auf Geldwäsche (engl: money laundering): So wie illegale Einnahmen durch undurchsichtige Transaktionen reingewaschen werden, sollen hier versäumte Emissionsminderungen durch potenziell fragwürdige Anrechnungen im Ausland als Klimaschutz deklariert werden. CAN Europe fürchtet, die EU versuche sich „freikaufen“ und die „Last auf den globalen Süden abwälzen“. Auch das EEB kritisiert die geplanten Flexibilitäten als gefährliches Nullsummenspiel: „Diese sogenannten Flexibilitäten sind nichts als Schlupflöcher, um echte Maßnahmen zu verzögern“, so EEB-Klimaexperte Mathieu Mal.
Zusätzlich kritisieren viele Umweltorganisationen, dass das Einrechnen ausländischer Offsets die Emissionsbilanz der EU intransparent mache, da deren Klimawirkung schwer überprüfbar sei und die reale Emissionsminderung in der EU nicht garantiert werden könne. Laut ESABCC sind nur etwa 16 Prozent der internationalen Emissionsgutschriften tatsächlich real wirksam.
Das Öko-Institut weist darauf hin, dass eine Nutzung internationaler Zertifikate überhaupt nur dann mit den Prinzipien des Pariser Abkommens vereinbar wäre, wenn sie über das 90–95 Prozent-Reduktionsniveau hinaus zur Ambitionssteigerung beitragen und nicht zur Zielerreichung herangezogen werden. „Internationale Zertifikate dürfen nicht dazu dienen, die Umsetzungslücke zu füllen – sie dürfen nur die Ambitionslücke schließen“, heißt es im Policy Brief des Instituts.
Nettosaldo-Ziel: Mangelnde Unterscheidung zwischen Emissionsreduktion und CO₂-Entnahme
Neben internationalen Offsets kritisieren die NGOs auch die geplante Anrechnung sogenannter „permanenter CO₂-Entnahmen“ etwa durch CCS, BECCS (Bioenergie mit CO₂-Abscheidung) oder Carbon Farming. Sie fordern drei separate Zielvorgaben: für Emissionsminderung, naturbasierte Senken und industrielle Entnahmen. „Ein einziges Nettosaldo-Ziel verschleiert den Unterschied zwischen Reduktion und Entnahme. Das ist intransparent – und klimapolitisch riskant“, so das EEB.
Angesichts dieser Schwächen fordern Umweltverbände einstimmig Nachbesserungen im anstehenden Gesetzgebungsverfahren – darunter ein verbindliches Zwischenziel für 2035, das ausschließlich durch Maßnahmen innerhalb der EU erreicht werden soll, sowie den klaren Ausschluss von CO₂-Entnahmen im Emissionshandelssystem, die nach Ansicht von Expert*innen die Lenkungswirkung des Instruments untergraben und es zu einem bloßen Offset-Mechanismus ohne echte Emissionsminderung machen könnten. Die EU dürfe ihre Zukunft nicht von „Verschmutzern, die sich der Dekarbonisierung verweigern und nach einfache Auswege suchen“ abhängig machen, mahnt etwa das EEB.
Dass diese Forderungen nicht nur klimapolitisch geboten, sondern auch umsetzbar sind, belegen Analysen wie das „PAC-Szenario“ von CAN Europe und dem EEB. Der Begriff steht für „Paris Agreement Compatible“ – also ein Energiesystem-Szenario, das mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens in Einklang steht. Dieses zeigt, dass eine EU-weite Klimaneutralität bis 2040 technisch möglich und wirtschaftlich sinnvoll wäre. „Die EU hat sowohl die Mittel als auch die Werkzeuge, um bis 2040 klimaneutral zu werden“, heißt es im Bericht. Hätte Europa früher gehandelt, wären laut EEB bis 2030 „mindestens eine Billion Euro an direkten Vorteilen“ realisierbar gewesen. Je schneller fossile Energieträger ersetzt würden, desto größer seien die Gewinne an Energieautonomie und Wettbewerbsfähigkeit.
„Ein starkes Klimaziel ist kein Selbstzweck“
Politisch ist das 2040-Ziel als Änderung des EU-Klimagesetzes vorgeschlagen und muss nun vom Europäischen Parlament und dem Rat beraten und angenommen werden. Die Berichterstattung für das EU-Klimagesetz im Parlament wird die Rechtsaußen-Fraktion Patriots for Europe (PfE) übernehmen. Zu dieser Gruppe gehören unter anderem der französische Rassemblement National, die ungarische Fidesz-Partei und die italienische Lega. Die PfE lehnt den Vorschlag zum Klimaziel für 2040 sowie den gesamten Europäischen Green Deal klar ab. Als Berichterstatter könnten sie den Prozess jetzt deutlich verzögern und Vorschläge einbringen, die das Ziel abschwächen. Am Ende entscheidet aber das gesamte Parlament. Gibt es eine Mehrheit für das 2040-Ziel, wird es trotzdem beschlossen. Deshalb wird besonders die Position der Europäischen Volkspartei (EVP) mit CDU /CSU entscheidend sein.
Um Verzögerungen zu vermeiden, wurde am 9. Juli 2025 darüber abgestimmt, das Gesetz im Eilverfahren zu behandeln. Dadurch hätte sich das Parlament schon im September zur Klimapolitik positionieren können, rechtzeitig vor der wichtigen UN-Klimakonferenz. Grüne, Sozialdemokraten und Liberale unterstützten diesen Vorschlag. Doch durch mangelnde Unterstützung durch die EVP kam keine Mehrheit für das schnellere Verfahren zustande. Damit wird es nun sehr schwer, das 2040-Ziel rechtzeitig festzulegen – ein problematisches Signal für die internationale Klimapolitik. Einmal beschlossen, würde das 2040-Ziel auch als Benchmark für den EU-Klimarahmen nach 2030 dienen. Zudem soll es in den internationalen Beitrag der EU eingearbeitet werden: Die EU muss bis Ende 2025 ihr Emissionsziel im Rahmen des Pariser Abkommens (Nationally Determined Contribution, NDC) aktualisieren. Angesichts der Klimakonferenz COP 30 im November 2025 steht die EU unter Druck, ihr 2040-Ziel rechtzeitig verbindlich festzulegen und als neues Klimaversprechen einzureichen. Das ESABCC hatte erst kürzlich gewarnt, dass ein Verharren in der aktuellen Klimapolitik die Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit der EU gefährden könnte. In dem Report von Mitte Juni betonte das Gremium, „dass das Festhalten an ambitionierter Klimapolitik entscheidend für die wirtschaftliche Resilienz und geopolitische Stabilität Europas“ sei.
Das 90 Prozent-Ziel könnte der europäischen und globalen Klimapolitik somit einen neuen Schub verleihen – sofern es nicht durch Schlupflöcher entwertet wird. Die nächsten Monate werden zeigen, ob EU-Parlament und Mitgliedstaaten den Mut haben, den Vorschlag der Kommission zu präzisieren und konsequent auszurichten: mit klarer Trennung von Reduktion und Entnahme, Ausschluss von Rechentricks und einem Fokus auf echte Emissionsminderung in der EU. DNR-Präsident Niebert appelliert vor diesem Hintergrund auch an die Bundesregierung: „Jetzt muss Berlin europapolitisch führen – und zeigen, dass Klimaschutz nicht mehr als moralischer Auftrag gedacht wird, sondern als industrie- und sicherheitspolitische Notwendigkeit.“ Ein starkes Klimaziel sei „kein Selbstzweck.“ Vielmehr sei es der “zentrale Rahmen, um Europas Industrie klimaneutral, resilient und unabhängig von fossilen Autokratien zu machen“. [ks]
Europäische Kommission: – 90 Prozent Treibhausgasemissionen: Kommission schlägt Klimaziel für 2040 vor
Deutschlandfunk: EU-Kommission will Emissionen bis 2040 um 90 Prozent senken
The Guardian: EU targets 90% cut in emissions by 2040 as green groups cry foul
WWF: Media Advisory: EU Climate Target for 2040
WWF: A lukewarm 2040 target for a warming planet
Greenpeace: EU climate target: dodgy accounting and offshore carbon laundering
EEB: EU 2040 target holds line on climate – but loopholes threaten integrity
CAN Europe: EU 2040 Climate Target Reaction
DNR: EU-Klimaziel 2040: Starkes Ziel für Europas Resilienz und Unabhängigkeit
ESABCC (Juni 2025): Staying the course on climate action – essential to EU security and competitiveness
Öko-Institut: Conditions for using international carbon credits towards the EU climate target